»Geister der Gegenwart«: Wider die Stumpfheit
Der Philosoph und Journalist Wolfram Eilenberger präsentiert das dritte ideengeschichtliche Panorama seiner Reihe, die uns die großen Linien modernen Denkens nahebringen soll. Nach den Bestsellern »Zeit der Zauberer« (2018) und »Feuer der Freiheit« (2020) nun also »Geister der Gegenwart« – und schon die Alliteration im Titel lässt erahnen, dass der Autor dem Strickmuster der Vorgängerbände folgt. Wieder stehen vier Geistesgrößen im Fokus, diesmal aus dem Zeitraum von 1948 bis 1984: Theodor W. Adorno, Michel Foucault, Susan Sontag und Paul Feyerabend.
Der Älteste, Adorno, war Jahrgang 1903 und neben Max Horkheimer Begründer der »Frankfurter Schule«, die den Begriffen und Dogmen der Philosophie kritisch auf den Zahn fühlte. Der 1926 geborene Foucault war eine Art Archäologe des Wissens, der sich für die Verquickung von Macht, Wahn und Vernunft interessierte. Er wurde 1970 Professor für die »Geschichte der Denksysteme« am Collège de France in Paris und starb 1984 an Aids – das Jahr, das den zeitlichen Schlusspunkt des Buchs markiert, auch wenn Feyerabend noch zehn, Sontag sogar noch zwanzig Jahre länger lebten. Zwei Jahre älter als Foucault, lehrte der Wiener Paul Feyerabend ab 1958 hauptsächlich in Berkeley in Kalifornien und wurde für seine anarchistische Auffassung von Wissenschaft berühmt. Susan Sontag, 1933 in eine wohlhabende New Yorker Familie geboren, galt als einflussreichste »femme de lettres« Amerikas und machte sich vor allem mit Essays zur Kunst- und Kulturphilosophie einen Namen.
Wer von Eilenberger nun eine schlichte Zusammenfassung der jeweiligen »Positionen« erwartet, wird enttäuscht. Zum einen setzen seine anspielungsreichen, sprachgewandten Paraphrasen und Kommentare durchaus einiges an Vorwissen voraus. Zum anderen haben die vier auch keine geschlossenen Lehren im klassischen Sinne formuliert. Man kann fast von einem »Ende der Theorien« sprechen oder zumindest von intellektuellen Rückzugsgefechten, in die das Quartett auf je eigene Art etwa mit Hegel, Husserl oder Marx verstrickt war. Die Nachkriegsdenker analysierten, entlarvten oder dekonstruierten – was auch an den Titeln ihrer Werke ablesbar ist: »Negative Dialektik« (Adorno), »Against Interpretation« (Sontag) oder »Wider den Methodenzwang« (Feyerabend). Auch Foucault bildet hier keine Ausnahme: Er stößt den letzten großen (marxistischen) Theoretiker Jean-Paul Sartre vom Sockel, um mit seiner Diskurskritik selbst in die Rolle des Zampanos im französischen Intellektuellenzirkus zu schlüpfen, mitsamt »Starrummel und folkloristischem Revolutionstheater«, wie es im Buch heißt.
Geistesgeschichte und Zeitporträt
Interessant ist, wie alle vier trotz ihrer Skepsis gegenüber Staat und Kapitalismus bemüht waren, in akademischen und medialen Arenen Fuß zu fassen oder, im Falle Adornos, ihre institutionellen Pfründe vor den Umsturzfantasien radikaler Studenten in Sicherheit zu bringen. Die von Marx und Freud beeinflusste Dialektik Adornos war ein wichtiger »Überbau« der 68er-Bewegung; gleichwohl fremdelte der Meisterdenker mit deren Aktionismus und Gewaltbereitschaft. Dieser Konflikt spitzte sich bei einer von Adornos letzten Vorlesungen in Form eines »Busen-Terrors« zu: Drei barbusige Studentinnen stifteten so viel Tumult, dass der indignierte Professor seine Tasche packte und den Hörsaal verließ. Wenig später, im August 1969, erlag er nach einer Wandertour in den Schweizer Bergen einem Herzinfarkt.
Paul Feyerabend ist in vielerlei Hinsicht der zugänglichste, auch humorvollste der Protagonisten dieses Buchs. In klarer Diktion und mit Spaß an der Provokation geht er dem Wesen der Wissenschaft auf den Grund und ruft das Motto »anything goes« aus: Eine theoretisch begründete Vorgabe, wie Wissenschaft zu arbeiten habe, könne es nicht geben.
Sontag dagegen ergeht sich zunächst in antiwestlichem Selbsthass (»Die weiße ›Rasse‹ ist der Krebs der Menschheitsgeschichte«) und idealisiert Vietnamesen und Kubaner als Gegenentwürfe zum kapitalistisch genormten Menschen. Später wird sie mit Reflexionen über Feminismus und Fotografie im intellektuellen Ostküstenmilieu zur Marke.
Eilenberger verknüpft Zitate aus philosophischen Werken mit Passagen aus Tagebüchern und Briefen zu einem lebendigen Zeitporträt. Es zeigt auch, mit welchen Problemen sich die vier plagten – im Leben wie im Denken. Doch die Lust des Autors am geistreichen Wortspiel lässt manches Argument im Metaphorischen verschwimmen. Da werden Ansichten »in Stellung gebracht«, Denklinien »verschränkt« oder »kurzgeschlossen«, »begriffliche Linsen geschliffen« oder es wird »durch Theoriefelder gefräst«. Ähnlich vage bleibt die Bedeutung der Aussage über Adorno, er habe es sich »zu seiner Denkaufgabe gemacht, mit dem Rücken zur Zukunft über den Horizont der eigenen Gegenwart zu blicken«. Man muss Adorno wohl schon sehr gut kennen, um damit etwas anfangen zu können.
Als das Gemeinsame der Ausgewählten benennt Eilenberger, dass sie »Metarevolten« angezettelt hätten »gegen das bleierne, sich im Zeichen der Immanenz zunehmend stumpf selbstbestätigende Denkklima ihrer Gegenwart«. Alle vier suchten »nach einem neuen Ausgang aus methodisch viel zu lang kultivierter Unmündigkeit.« Das berühmte Wort Immanuel Kants, der Aufklärung als den »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« beschrieb, bildet das Leitmotiv dieses Buchs. Auch wenn der Autor seine Sprachgewalt mitunter etwas übertreibt: Gerade sie ist es, die den Leser dafür begeistert, den Denk- und Lebenswegen der vier Protagonisten zu folgen – und sich dabei mutig des eigenen Verstandes zu bedienen.
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