»Geisterschiffe«: Zeitkapseln am Meeresgrund
Abenteuerlust, Handel, Kriege: Das alles trieb die Menschen seit Jahrtausenden auf die Ostsee. Viele Schiffe, die aus den sicheren Häfen aufbrachen, erreichten nie ihr Ziel. Sie liegen heute auf dem schlammigen Grund des Binnenmeeres. Man vermutet, dass fast 100 000 Wracks aus allen möglichen Epochen in den grünen Tiefen der Ostsee ihre letzte Ruhe gefunden haben.
Zwei, die sich ganz besonders in der Schifffahrtshistorie der Ostsee auskennen, sind die Unterwasserfotografen Jonas Dahm und Carl Douglas. Mit ihrem Bildband »Geisterschiffe« haben sie eine einzigartige Sammlung von beeindruckenden Unterwasserfotografien der Wracks in der Ostsee veröffentlicht.
Manchmal möchte man kaum glauben, dass man Bilder betrachtet, die die Autoren unter Wasser aufgenommen haben; so klar sind manche Innenansichten von Kombüsen, Kabinen oder Frachträumen der Schiffe, die sie in der Tiefe fotografiert haben. Da dringen die beiden Abenteurer zum Beispiel in den Bauch der »Aachen« ein, eines Schiffes, das 1915 durch einen Torpedotreffer gesunken ist. Zwei Decks unter der Brücke stoßen sie auf eine Kajüte, die bis auf den Schlick an den Wänden noch sehr intakt wirkt. Ein Tisch mit Stühlen, rechts ein Schrank, links ein Bett. Der eingefrorene Moment erzählt viel über das Schiffsleben um die vorletzte Jahrhundertwende. Besatzung und Passagiere scheinen das Schiff gerade erst verlassen zu haben.
Ähnliche Geschichten erlebt man bei allen porträtierten Wracks, die wie friedvolle Zeitkapseln am Meeresgrund erscheinen. Fast stellt sich beim Betrachter das Gefühl ein, bei den Expeditionen dabei zu sein, die Schiffe selbst zu erkunden und in die Vergangenheit einzutauchen. Dahm und Douglas sind Meister der Inszenierung und Beleuchtungskunst. Die großformatigen Bilder sind äußerst detailreich. Obwohl man eigentlich Dunkelheit in den Tiefen des Meeres erwartet, sind die Motive extrem gut ausgeleuchtet. Da sieht man Taucher, die im grünlichen Wasser winzig klein neben den gewaltigen Schiffsrümpfen erscheinen und mit ihren Lampen die Überreste erkunden. Ein paar Seiten weiter stößt man auf Galionsfiguren, die einem direkt ins Gesicht blicken. Und immer wieder sieht man Habseligkeiten von Passagieren, Besatzungen oder Soldaten, die von einem Leben erzählen, das meist jäh endete. Überall entdeckt man Details, wie Steuerräder, Kanonen oder manchmal auch einen menschlichen Schädel. Die Stimmung, die Dahm und Douglas mit ihren Fotos kreieren, schwankt zwischen friedvoller letzter Ruhe und brutalem Drama.
Mit der Ostsee haben sich Dahm und Douglas ein ganz besonders dankbares Tauchrevier ausgesucht. Weil das Wasser kalt ist und nur einen geringen Salzgehalt besitzt, fühlt sich die Schiffsbohrmuschel darin nicht wohl. Die Wracks bleiben vor dem Vielfraß verschont, so dass man Schiffe vom Mittelalter bis in die jüngere Vergangenheit findet. Über 400 Schiffe haben die beiden Autoren über die letzten Jahrzehnte entdeckt. Bis in 110 Meter Tiefe liegen die Wracks, die Dahm und Douglas besucht haben. Im Bildband zeigen sie eine Auswahl der spektakulärsten Funde. Dazu gibt es am Ende eines jeden Kapitels ausführliche Erklärungen zu den Tauchgängen und den Schiffen.
Wer sich für Unterwasserfotografie und die Geschichte der Seefahrt begeistert, der wird von diesem Bildband begeistert sein. Beide Genres ergänzen sich in prachtvollen Bildern und Artikeln, die man bisher zu diesem Thema in einer solch opulenten und informativen Zusammenstellung noch nicht geboten bekommen hat.
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