»Gekränkte Freiheit«: Dialektik der Freiheit
»Die alte Schulfreundin, der Kollege, das Familienmitglied, die neuerdings davon raunen, dass sie ihre Freiheit bedroht sehen – die meisten von uns können wohl von solchen Begegnungen berichten«, beginnen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey ihr Fachbuch »Gekränkte Freiheit«. Damit wollen sie ausdrücken: Es betrifft uns alle. Die Literatursoziologin und der Professor für Sozialstrukturanalyse an der Universität Basel beschreiben einen neuen Sozialtyp: den libertär-autoritären Charakter.
Libertär und gleichzeitig autoritär? Mit diesem Scheinwiderspruch sind Querdenker sowie ehemals progressiv eingestellte und politisch engagierte Menschen gemeint, die sich der AfD zuwandten. Die Forschenden haben mit beiden Gruppen ausführliche Interviews geführt. Daraus sind zwei Studien entstanden, die den empirischen Kern des Buchs bilden. Zuerst muss man sich jedoch an fast 250 Seiten Theorie und Wissenschaftsgeschichte abarbeiten. Diese sind wichtig, damit auch eine fachfremde Leserschaft den Überlegungen folgen kann.
Amlinger und Nachtwey stehen in der Tradition der kritischen Theorie, die am Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS) begründet wurde. In ihrem Buch beziehen sie sich auf Theodor W. Adornos 1950 erschienene »Studien zum autoritären Charakter«, mit denen er die Entstehung des Faschismus in Europa zu erklären versuchte. »Gekränkte Freiheit« könnte man auch als Update dieser Arbeit betrachten. Das Buch erscheint gerade rechtzeitig zum 100. Geburtstag des IfS.
Verändertes Freiheitsverständnis
Die beiden Sozialwissenschaftler der Universität Basel diagnostizieren in der »spätmodernen« Gesellschaft ein verändertes Freiheitsverständnis. Früher ging es darum, die Fesseln des Feudalismus und eines unterdrückenden Staats zu sprengen. Mittlerweile sind Bürgerrechte und Meinungsfreiheit erfolgreich erkämpft. Heute bedeutet Freiheit für viele: tun und lassen können, was man will. Dieser Anspruch vernachlässigt, dass bestimmte Regeln und Einschränkungen grundlegend für unser Leben in Freiheit sind. Bezug nehmend auf den marxistischen Philosophen Georg Lukács bezeichnen die Autoren das als »verdinglichte Freiheit«, die als persönliches Gut betrachtet wird.
Amlinger und Nachtwey argumentieren, dass diese ichbezogene Vorstellung immer wieder mit der Realität kollidiert, was zu Kränkungen führt. Bestes Beispiel: die Querdenken-Proteste während der Corona-Pandemie. Maskentragen, Abstandhalten, Impfen – all das wurde als Verlust der persönlichen Freiheit gewertet und die Vorgaben deshalb auch persönlich genommen. »Libertär« nennen die Forschenden den Subtypen, weil er individuelle Freiheit absolut setzt; »autoritär« auf Grund eines Aggressionspotenzials gegenüber Andersdenkenden. Vor allem in einem Aspekt unterscheide sich der neue »libertär-autoritäre Charakter« von Adornos autoritärem Charakter: Heutzutage gibt es keine Sehnsucht mehr nach einer starken Führung: »Die einzige Autorität, die sie anerkennen, sind sie selbst.«
Wie in der kritischen Theorie üblich, warten Amlinger und Nachtwey in »Gekränkte Freiheit« mit psychoanalytischen Erklärungen auf. Diese Verbindung geht auf den Sozialpsychologen Erich Fromm zurück. Während sich Fromm im Lauf seines Lebens der freudschen Lehre größtenteils entledigte, hielten Adorno und Max Horkheimer – der ehemalige Direktor des IfS – daran fest. Diesem Festklammern an Ansätzen aus der Psychologie, die Kritiker als nicht mehr zeitgemäß einstufen, begegnet man auch in »Gekränkte Freiheit«. Davon zeugen etwa Ausdrücke wie »libidinöse Identifikation« oder die Aussage, der gesellschaftliche Diskurs »fixiert sich auf sexuelle Themen«. Hätten die Autoren bei dem Update von Adornos Thesen die dahinterliegende psychologische Theorie ebenbürtig aktualisiert: Das Buch wäre noch gelungener!
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