Wolf im Schafspelz
Manfred Spitzer hat eine Mission. Mit seiner These, die neuen Medien führten zu einer "Digitalen Demenz" (2012), sorgte er für Furore. Auch das vorliegende Buch geht in diese Richtung, vor allem in der zweiten Hälfte. Spitzer warnt darin vor den Gefahren bläulichen Bildschirmleuchtens vor dem Einschlafen; er zitiert Studien über die Angst, sich vom Mobiltelefon zu trennen; und er versucht zu begründen, warum Internetrecherchen grundsätzlich dazu führen müssten, Krankheitssymptome überzubewerten. Kapitel mit anderen Themen ("Miniaturen aus der Wissenschaft", wie der Autor sie im Vorwort ankündigt) gibt es zwar auch. Den Gesamteindruck des Buchs dominiert am Ende aber die Kritik an der digitalen Gesellschaft. Das geht weder aus dem Titel noch aus dem Untertitel noch aus dem Klappentext hervor.
Dabei demonstriert Spitzer selbst in den ersten Kapiteln eindrucksvoll, welch reichliches Material es gäbe für einen aktuellen Einblick in die neurowissenschaftliche Forschung. Der Autor stellt hier amüsante Ergebnisse vor, etwa dazu, wie sich schwarze Trikots auf die Häufigkeit von Fouls auswirken, oder wie weiße Kittel die Aufmerksamkeit ihrer Träger beeinflussen. Er beschreibt, warum das Bewegungspensum von Pandabären aus energetischen Gründen recht eng limitiert ist, und wie das als "Kuschelhormon" bekannte Oxytocin die Kommunikation zwischen Hund und Herrchen prägt.
Vorkenntnisse erwünscht
Ausführlich erklärt Spitzer manch komplexen Sachverhalt, etwa wie sich der Zusammenhang zwischen Wirkstoff- und Placeboeffekten untersuchen lässt. Ein gewisses medizinisches Fachvokabular setzt er dabei voraus. Wörter wie "analgetisch" (schmerzlindernd), "Pharmakotherapie" (Behandlung mit Wirkstoffen) oder "Opiatantagonisten" (Stoffe, die die Wirkung von Opiaten behindern) beispielsweise erklärt er nicht. Auch sonst erinnern große Teile des Werks an Fachartikel: verfasst in fachnaher und trockener Sprache, voller Prozent- und Quellenangaben, in neutralem Duktus und optisch aufgelockert nur durch Tabellen und einfache Schwarzweißgrafiken.
Zugespitzte, ja regelrecht überspitzte Formulierungen findet der Autor dagegen, wenn er diese Daten interpretiert. Das gilt besonders für die späteren Kapitel, die sich verschiedenen Aspekten des Computerzeitalters widmen. Vom Internet über E-Books bis zur Medienpädagogik in Schule und Kindergarten – jede digitale Informationstechnik bewertet Spitzer als gefährlich und stellt sie in eine Reihe mit den Auslösern bekannter Zivilisationskrankheiten. Zudem lässt er eine befremdliche Intoleranz gegenüber jeglicher abweichender Interpretation einschlägiger Befunde erkennen. Wenn eine Studie ergibt, es seien keine signifikanten Erfolgsunterschiede zwischen dem Lernen mit Notebook beziehungsweise mit konventionellem Methoden zu erkennen, nennt Spitzer das nicht nur "peinlich". Er setzt weiteres Forschen in dieser Richtung auch damit gleich, ein Medikament weiterzuentwickeln, das bereits Todesfälle verursacht hat. Vier Studien, die der Internetsuche einen geringeren Lernerfolg bescheinigen als der Suche in anderen Medien, reichen ihm für die kategorische Aussage: "Die Frage [...] 'Macht Google uns dumm?' kann damit aus wissenschaftlicher Sicht klar mit 'Ja' beantwortet werden."
Spitze(rs) Attacken
Der Autor verschweigt nicht die Befunde, die seiner Argumentation zuwiderlaufen. Er interpretiert sie aber von vornherein unter der Prämisse, die Digitalisierung unserer Lebenswelt sei schädlich. Belege dafür meint er auch in Arbeiten zu finden, die sich nicht direkt mit Fernsehen, Tablet-Computern oder E-Books beschäftigen, sondern mit dem Experimentierverhalten von Kleinkindern oder den moralischen Auswirkungen ehrfurchterregender Naturerlebnisse.
Je heftiger Spitzer die digitalen Medien angreift, umso zahlreicher werden in den Quellenverweisen die Hinweise auf seine eigenen Bücher. Mitunter sind diese die einzige Quelle für Behauptungen wie "Nach allem, was wir zur Bedeutung des sensomotorischen Lernens für die Entwicklung höherer geistiger Leistungen wissen, versündigen sich Eltern, die ihren Kindern solche 'Innovationen' angedeihen lassen, an ihrem Nachwuchs." Man kann nur hoffen, dass es vorgebildeten Lesern mit genügend kritischem Abstand gelingt, die aufgeführten Daten von des Autors Interpretationen zu unterscheiden und sich anhand der zitierten Quellen ein eigenes Bild zu machen. Oder aber sie lesen von vornherein die Originalpublikationen.
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