»Gemeinsinn«: Der Rettungsanker für unsere Demokratie?
Aleida Assmann und ihr leider im Februar 2024 verstorbener Mann Jan bedürfen wohl kaum der Vorstellung. Die Literaturwissenschaftlerin und der Ägyptologe – diese Disziplinen seien hier genannt, obwohl sie die Arbeit der beiden bei Weitem nicht erschöpfend beschreiben – gelten als weit über ihre zentralen Forschungsfelder hinauswirkende Koryphäen. Sie wurden mit vielen nationalen und internationalen Preisen ausgezeichnet, besonders bekannt ist das von beiden gemeinsam entwickelte Konzept des kulturellen Gedächtnisses. Es bezeichnet die Gesamtheit der über Jahrhunderte hinweg in einer Gesellschaft regelmäßig wiederholten Texte, Traditionen und Bilder, die ihr Selbstbild maßgeblich mitbestimmen. Die Eheleute Assmann schufen so, anknüpfend an das »mémoire collective« des französischen Philosophen Maurice Halbwachs (1877–1945), einen Begriff, der unter anderem für das Verständnis von kultureller Identität, Erinnerungskultur oder kulturellem Erbe unabdingbar geworden ist.
Gerade in den letzten zehn Jahren wurden diese Begriffe wieder stärker diskutiert. Politikwissenschaftler, die eine Gefährdung europäischer Demokratien durch das Erstarken autoritär-ultrakonservativer Parteien sehen, aber auch Soziologen nehmen seit Längerem Anzeichen für eine gesellschaftliche Spaltung wahr, die durch die Renaissance nationalistischen Gedankenguts größer zu werden scheint. In diesem Zusammenhang gewinnen auch Begriffe wie »Gemeinwohl« oder »Gemeinsinn« als mögliche Gegenkräfte an Relevanz.
Für Aleida und Jan Assmann ist Gemeinsinn, analog zum Untertitel ihres Buchs, »der sechste, soziale Sinn«. Ihr Buch erweitert den Diskurs, der aktuell vor allem ein politikwissenschaftlicher, soziologischer und juristischer ist, um eine kulturwissenschaftliche Dimension. Es umfasst neben einer Einleitung und einem Epilog sieben Kapitel. Sie drehen sich um Themen wie Solidarität oder politische Kultur, geben Beispiele für Menschen, die im Sinne des Gemeinsinns handelten, und reflektieren unterschiedliche Verwendungen des Begriffs.
Der Blick auf die neuen Bundesländer als Beispiel
Wie für die Verfasser üblich, nehmen sie neben der kulturwissenschaftlichen noch andere Perspektiven auf ihr Thema ein, etwa historische, literarische, philosophische oder religionswissenschaftliche. Dabei gibt es immer wieder aktuelle Bezüge – etwa zu Dirk Oschmanns Buch »Der Osten: eine westdeutsche Erfindung« (2023). Oschmann prangert darin nicht nur bekannte Missstände an – in den neuen Bundesländern herrscht etwa ein sechsmal höheres Armutsrisiko als in der alten Republik –, sondern arbeitet sich vor allem an der aus seiner Sicht kolonial-überheblichen Berichterstattung westlicher Medien ab, die den so genannten Osten meist kollektiv als eine Art Entwicklungsland darstellten und Regionen ihre historisch-kulturelle Individualität absprächen. Dieses polemische Werk zeige, so Aleida und Jan Assmann, dass eine andere Sicht auf die neuen Bundesländer nötig sei, weil eine gedanklich fixierte strukturelle Diskriminierung, wie Oschmann sie darstellt, dem Gemeinsinn des Landes schade.
»Gemeinsinn« versammelt Studien aus den Kulturwissenschaften und angrenzenden Bereichen. Das Werk vermittelt gut verständlich den Gedanken von Gemeinsinn als sechstem, sozialem Sinn, so dass auch Leser ohne einschlägige Vorbildung diesen gut nachvollziehen können. Aleida und Jan Assmann stärken dem Gemeinsinn als grundlegender Voraussetzung für Demokratie mit den Mitteln der Wissenschaft den Rücken. Ihr Buch sei jedem empfohlen, der – wie die Autoren und der Rezensent – glaubt, dass »diese Grundlagen unserer sozialen und politischen Existenz keine festen disziplinären Grenzen haben«.
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