Vom Werden der Welt
Im biblischen Schöpfungsmythos entsteht binnen sieben Tagen die Welt aus einem »wüsten und leeren« Zustand. Jeden Tag kommt mehr Komplexität hinzu, bis am sechsten Tag der Mensch geschaffen wird. Wer mag, kann hier gewisse Parallelen zum wissenschaftlichen, empirisch begründeten Weltbild sehen, dass von einem Urknall ausgeht und eine daran anschließende kosmische Entwicklung postuliert. Demnach entstand das Universum aus einer Art Vakuumzustand, und aus einer durch die Physik bestimmten, endlichen Abfolge von Phasenübergängen ging der Kosmos hervor, wie wir ihn kennen, inklusive des Sonnensystems und der Bewohner seines dritten Planeten. Der Teilchenphysiker Guido Tonelli, der an der Forschungseinrichtung CERN arbeitet, erzählt in diesem Buch deshalb eine wissenschaftlich fundierte Geschichte des Universums, die er – angelehnt an die Genesis-Erzählung – in sieben Tage gliedert.
Inflationär ausgedehnt
Die Entwicklung des Kosmos ist nun allerdings schon in etlichen Büchern dargestellt worden, und man fragt sich zunächst, warum jetzt ein weiteres Werk zu dem Thema erschienen ist. Die Antwort gibt die Lektüre: Tonelli gelingt die beste Beschreibung des Urknalls und der folgenden kosmischen Evolution, die ich kenne. Der Autor kommt ohne Formeln und ohne Exkurse in die Mathematik aus, aber auch ohne die sonst üblichen Illustrationen – und schafft es dennoch, den Werdegang des Universums sehr verständlich und präzise zu beschreiben.
Ein Beispiel dafür ist der Abschnitt über die so genannte kosmische Inflation, jene kurze Phase, in der sich das Universum exponentiell ausdehnte. Die meisten Urknalldarstellungen führen das Argument an, dass der Himmel im Großen und Ganzen in jeder Richtung gleich aussieht – und dass sich insbesondere sogar solche Gebiete sehr ähnlich sehen, die weiter auseinanderliegen, als das Licht seit dem Urknall zurückgelegt haben kann. Das lässt sich nur damit erklären, dass diese Gebiete früher einmal kausal miteinander in Verbindung standen; ergo bedarf es einer inflationären Phase, die den Raum anschließend überlichtschnell aufblähte. Bei diesem Argument bleibt es dann meist. Die Leser lernen daraus streng genommen aber nur, warum wir annehmen, dass es die kosmische Inflation gab – aber nicht, warum sie stattfand. Und genau das erklärt Tonelli: Warum könnte sich das bislang unentdeckte, hypothetische Quantenfeld, das die Inflation antrieb, genau so verhalten haben, dass daraus unsere heutigen Beobachtungen resultierten? Der Autor erklärt also die Physik dahinter, jedenfalls so gut es aus heutiger Sicht möglich ist, was zu einer ungewöhnlichen, aber sehr wohltuenden gedankliche Tiefe führt.
Ein weiteres Merkmal des Buchs sind die originellen Vergleiche, die der Physiker zieht: Er bedient sich dabei fast immer in der klassischen Sagenwelt. Die Quantenfelder sind demnach Tonellis mythische Helden. Das setzt auf der Leserseite natürlich eine gewisse klassische Bildung voraus. Die sonst in diesem Zusammenhang üblichen alltagsnahen Bilder – etwa der aufgehende Teig mit Rosinen – sind zwar jedem zugänglich, aber inzwischen auch etwas abgegriffen.
Deutlich schwächer wird das Buch, wenn es auf die spätere Entwicklungsgeschichte des Universums eingeht. Sobald die beschriebenen Phänomene in den Bereich der Kosmologie und Astronomie fallen, verlässt Tonelli sein Fachgebiet, und leider merkt man das dem Text auch an. Beispielsweise sind seine Ausführungen über die ersten Sterne und die Galaxienentstehung etwas verwirrend, da sie nicht klarmachen, dass auch die ersten Sterne in Galaxien entstanden. Anders als Tonelli glaubt, gibt es zudem bis heute keine ähnlich überzeugende Evidenz für mittelschwere Schwarze Löcher, wie sie für stellare oder superschwere Schwarze Löcher existiert. Diese kleinen Fehler zeigen, dass der Autor hier selbst nachlesen musste. Vermutlich wäre es besser gewesen, für diesen Buchteil einen Koautor einzuladen.
Ein großes Lob geht an den Übersetzer Enrico Heinemann. Dank ihm liest sich das Buch so gut, also sei es im Original auf Deutsch verfasst worden. Unterm Strich überzeugt »Genesis« als hochinformatives, klares und schön geschriebenes Werk über die denkbar unglaublichste Geschichte: die Entstehung des Kosmos.
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