Buchkritik zu »Geometrie und ihre Anwendungen in Kunst, Natur und Technik«
Vergessen Sie das öde Schema Definition – Satz – Beweis, die unerbittliche Strenge und Kleinlichkeit, die gnadenlose Abstraktion, die seit den Tagen Euklids die Geometrie bis in den Schulunterricht hinein geprägt hat. Georg Glaeser, Professor für Geometrie und Mathematik an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien, lädt uns mit einer Fülle von Bildern – hauptsächlich Fotos – zu einer Entdeckungsreise ins Reich der Formen ein. Damit stellt er seinem "Mathematischen Werkzeugkasten" (Elsevier, 2004), der sich mit angewandter Mathematik im Allgemeinen befasste, ein geometrisches Pendant zur Seite.
"Formen" meint hier vor allem "frei von Zahlen". Das ist der "synthetische" Stil der Geometrie, mit Axiomen und Definitionen, aber ohne Koordinaten und Gleichungen, den Euklid (um 300 v. Chr.) in seinen "Elementen" geprägt hat. Manchmal geht es analytisch im Stile von Descartes (1596 – 1650) und Fermat (1601 – 1665) viel einfacher, was der Autor auch keineswegs verschweigt. "Formen" meint Anschauungsvermögen, Entwicklung eines sechsten Sinns. Dessen Förderung ist eine alte, aber weit gehend ungehört verhallte Forderung, zum Beispiel der Meraner Reformbewegung von 1905. Heute ist sie von großer Brisanz, verlangen doch viele Computeranwendungen gutes räumliches Anschauungsvermögen. Insofern Glaesers Buch zeigt, wie dies kultiviert werden kann, ist es auch eine Bereicherung der didaktischen Diskussion.
Einen breiten Raum nehmen im Buch Projektionen ein, insbesondere für die darstellende Geometrie ("Wie kann ich einen Körper zweidimensional wiedergeben?") und die Computergrafik. Viele Feinheiten wie Schattenwurf und Oberflächengestaltung kommen zur Sprache und ins Bild. Klar, dass Glaeser hier auch auf die Perspektive und die Fotografie, auf Ray-tracing und Militärriss (eine spezielle Art der Parallelprojektion) eingeht. Andere Themen sind Polyeder, Kurven und Flächen, Kegelschnitte, Kinematik und Bewegungen im Raum.
Überzeugend wird gezeigt, dass die Geometrie im modernen Leben eine wichtige Rolle spielt: Maschinenbau, Architektur, Bauingenieurwesen, Design, bildende Kunst und Musik sind nur einige Bereiche, die Glaeser anspricht. Die Darstellung ist informativ und spannend, voller Ideen; sie orientiert sich stets an Abbildungen, Modellen und anderem Bildmaterial. Der Sehsinn kommt voll auf seine Kosten, wie schon ein Durchblättern des Buchs deutlich macht.
Das alles ist sehr anregend, aber auch sehr anspruchsvoll. Will man dem Tempo wirklich folgen, bedarf es einiger Anstrengung. Es ist so ähnlich wie bei Lance Armstrong: Schaut man ihm zu, sieht Radfahren ganz einfach aus. Die Qual beginnt erst, wenn man selbst im Sattel sitzt.
Im Hauptteil kommt der Autor bewusst ohne mathematische Vorkenntnisse und ohne Spitzfindigkeiten aus; in den kleingedruckten Ergänzungen – meist kurze Beweise – ist das anders. Selbst dort vermeidet Glaeser die systematische und kleinschrittige Vorgehensweise eines klassischen Lehrbuchs; aber eine gewisse gedankliche Arbeit ist bereits erforderlich. "Der Geradenraum" – das heißt die Menge der Geraden im dreidimensionalen Raum – "ist vierdimensional. Das sagt sich leicht, aber man muss es erst einmal verkraften", warnt der Autor selbst seine Leser.
Das Buch ist voll von überraschenden Anwendungen der Geometrie; zwei Beispiele, die mir gut gefallen haben, sind der Schattenwurf von Hochhäusern (S. 71) und die Fabrikation der zweifach gekrümmten Kartoffelchips (S. 118). Kaum Beachtung findet die Geschichte der Geometrie, und wenn, dann eher unzuverlässig. So sind Euklids "Elemente" keine 13-bändige Enzyklopädie, sondern ein Buch mit 13 Kapiteln, die man als "Bücher " bezeichnet (wie jene der Bibel).
Die Abbildungen des Buchs sind durchweg farbig und ansprechend; allerdings hätte des Öfteren eine schematische Zeichnung anstelle eines Fotos dem Leser bessere Dienste geleistet. Weniger kann mehr, da weniger verwirrend sein. Deutlich wird dies beim Thema hyperbolische Geometrie, wo man eigentlich nur merkwürdig Verzerrtes zu sehen bekommt. Insgesamt handelt es sich um ein anregendes und hochinteressantes Buch. Als Lehrbuch kann es nicht dienen, als Ergänzung und vor allem zur Motivation sehr wohl.
"Formen" meint hier vor allem "frei von Zahlen". Das ist der "synthetische" Stil der Geometrie, mit Axiomen und Definitionen, aber ohne Koordinaten und Gleichungen, den Euklid (um 300 v. Chr.) in seinen "Elementen" geprägt hat. Manchmal geht es analytisch im Stile von Descartes (1596 – 1650) und Fermat (1601 – 1665) viel einfacher, was der Autor auch keineswegs verschweigt. "Formen" meint Anschauungsvermögen, Entwicklung eines sechsten Sinns. Dessen Förderung ist eine alte, aber weit gehend ungehört verhallte Forderung, zum Beispiel der Meraner Reformbewegung von 1905. Heute ist sie von großer Brisanz, verlangen doch viele Computeranwendungen gutes räumliches Anschauungsvermögen. Insofern Glaesers Buch zeigt, wie dies kultiviert werden kann, ist es auch eine Bereicherung der didaktischen Diskussion.
Einen breiten Raum nehmen im Buch Projektionen ein, insbesondere für die darstellende Geometrie ("Wie kann ich einen Körper zweidimensional wiedergeben?") und die Computergrafik. Viele Feinheiten wie Schattenwurf und Oberflächengestaltung kommen zur Sprache und ins Bild. Klar, dass Glaeser hier auch auf die Perspektive und die Fotografie, auf Ray-tracing und Militärriss (eine spezielle Art der Parallelprojektion) eingeht. Andere Themen sind Polyeder, Kurven und Flächen, Kegelschnitte, Kinematik und Bewegungen im Raum.
Überzeugend wird gezeigt, dass die Geometrie im modernen Leben eine wichtige Rolle spielt: Maschinenbau, Architektur, Bauingenieurwesen, Design, bildende Kunst und Musik sind nur einige Bereiche, die Glaeser anspricht. Die Darstellung ist informativ und spannend, voller Ideen; sie orientiert sich stets an Abbildungen, Modellen und anderem Bildmaterial. Der Sehsinn kommt voll auf seine Kosten, wie schon ein Durchblättern des Buchs deutlich macht.
Das alles ist sehr anregend, aber auch sehr anspruchsvoll. Will man dem Tempo wirklich folgen, bedarf es einiger Anstrengung. Es ist so ähnlich wie bei Lance Armstrong: Schaut man ihm zu, sieht Radfahren ganz einfach aus. Die Qual beginnt erst, wenn man selbst im Sattel sitzt.
Im Hauptteil kommt der Autor bewusst ohne mathematische Vorkenntnisse und ohne Spitzfindigkeiten aus; in den kleingedruckten Ergänzungen – meist kurze Beweise – ist das anders. Selbst dort vermeidet Glaeser die systematische und kleinschrittige Vorgehensweise eines klassischen Lehrbuchs; aber eine gewisse gedankliche Arbeit ist bereits erforderlich. "Der Geradenraum" – das heißt die Menge der Geraden im dreidimensionalen Raum – "ist vierdimensional. Das sagt sich leicht, aber man muss es erst einmal verkraften", warnt der Autor selbst seine Leser.
Das Buch ist voll von überraschenden Anwendungen der Geometrie; zwei Beispiele, die mir gut gefallen haben, sind der Schattenwurf von Hochhäusern (S. 71) und die Fabrikation der zweifach gekrümmten Kartoffelchips (S. 118). Kaum Beachtung findet die Geschichte der Geometrie, und wenn, dann eher unzuverlässig. So sind Euklids "Elemente" keine 13-bändige Enzyklopädie, sondern ein Buch mit 13 Kapiteln, die man als "Bücher " bezeichnet (wie jene der Bibel).
Die Abbildungen des Buchs sind durchweg farbig und ansprechend; allerdings hätte des Öfteren eine schematische Zeichnung anstelle eines Fotos dem Leser bessere Dienste geleistet. Weniger kann mehr, da weniger verwirrend sein. Deutlich wird dies beim Thema hyperbolische Geometrie, wo man eigentlich nur merkwürdig Verzerrtes zu sehen bekommt. Insgesamt handelt es sich um ein anregendes und hochinteressantes Buch. Als Lehrbuch kann es nicht dienen, als Ergänzung und vor allem zur Motivation sehr wohl.
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