Die Erde auf einem Blatt Papier
Eigentlich waren die Arbeitsbedingungen für den Kartografen und Geografen Gerhard Mercator (1512-1594) ungünstig. Sein Duisburger Familienunternehmen lag im 16. Jahrhundert geografisch an der Peripherie des europäischen Buchhandels- und Verlagsnetzwerks. Mercator selbst galt eher als Laie im Buchhandel und seine Einkünfte als Mathematiklehrer des Duisburger Gymnasiums dürften für die Ausstattung einer Gravurwerkstatt kaum ausgereicht haben. Dennoch brachte er es zu einem der bedeutendsten Kartografen seiner Zeit.
Wie alle Landkartenzeichner stand er vor dem Problem, die Oberfläche der kugelförmigen Erde in der Ebene abzubilden, wobei es unweigerlich zu perspektivischen Verzerrungen kommt. Um diesem Dilemma beizukommen, entwickelte er die nach ihm benannte Projektionsmethode (Mercator-Projektion), die sich als großes Erfolgsmodell erweisen sollte. Sie findet in der Kartografie, im Vermessungswesen und in der Navigation noch heute Verwendung.
Globaler Blick von Duisburg aus
Die Autoren des vorliegenden Sammelbands untersuchen Mercators Wirken im zeit- und kulturhistorischen Kontext. Ebenso betrachten sie die Rezeption seiner Karten und fragen, inwiefern diese die Auffassung von der Wirklichkeit prägten und prägen. Wie die Herausgeber konstatieren, ist das Gelehrtennetzwerk, auf das sich Mercator stützte, bislang kaum untersucht worden. Dabei war er schon allein deshalb auf gute Kontakte angewiesen, weil er kaum aus Duisburg heraus kam, wie der Beitrag "Lebensform und Habitus" darlegt. Seine Geschäftsbeziehungen, die der Beschaffung wissenschaftlicher Informationen sowie der unternehmerischen Tätigkeit dienten, lassen sich in starke und schwache untergliedern. Zu den ersten zählte ein kleiner Kreis von Gelehrten in Duisburg und Köln, mit denen Mercator auch geselligen Umgang pflegte. Zu den letzten gehörte die Briefkorrespondenz mit Sachkundigen in aller Welt.
Der Beitrag über Mercators Vertriebsstrategien zeigt, dass dessen verlegerisches Netzwerk unter anderem kapitalträchtige Großunternehmer umfasste, die selbst wichtige Kontakte hatten. Dazu zählten die Kölner Unternehmerfamilie Birckmann und der Antwerpener Verleger Christoph Plantin. Letzterer übernahm zwischen 1566 und 1576 nicht nur die Weiterverarbeitung der Mercator-Karten, etwa deren aufwendige Kolorierung, sondern kümmerte sich auch um deren Vertrieb bis nach Paris, Brüssel, London und Sevilla. Zu den Käufern zählten Gelehrte, Buch- und Kunsthändler, Bibliotheken, aber auch wohlhabende Bürger, die Grafiksammlungen anlegten oder die Karten als repräsentativen Wandschmuck nutzten.
Intensiver Verdrängungswettbewerb
Doch der Markt war hart umkämpft, weshalb sich Mercator-Karten gegen eine Vielzahl von Konkurrenzprodukten behaupten mussten. Dazu gehörten die Seekarten der niederländischen Vereinigten Ostindischen Kompanie (VOC), aber auch die vom niederländischen Kartografen Adriaen Veen (1572-1631) entwickelten gewölbten Karten. Veens Entwicklung war ab 1594 für 12 Jahre durch Privileg geschützt. Keine dieser Lösungen überzeugte vollends, alle erwiesen sich in der Abbildung geografischer Realität als ungenau und verzerrt. Für die Werke Mercators, die spätestens ab 1608 auf Schiffen der VOC verwendet wurden, kam noch erschwerend hinzu, dass sie den Seeleuten zur nautischen Berechnung umfangreiche Mathematikkenntnisse abverlangten. Daher musste man sie durch Gebrauchsanweisungen und Tabellen ergänzen.
Kritik an den Mercator-Karten blieb deshalb nicht aus. Doch wichtige Entscheidungsträger argumentierten, dass die Karten eine gelungene Vereinigung von Theorie und Praxis darstellten und ihr Einsatz "zum Besten" der Seeleute erfolge. So setzte sich die Mercator-Projektion innerhalb der VOC offenbar deshalb durch, weil die Kompanie die Nutzung der Karten vorschrieb.
Falscher Eindruck von der Welt
Die perspektivischen Verzerrungen der Mercator-Projektion, so der Tenor einer breiten Diskussion in den 1960er Jahren, führten zu einem entstellten Weltbild, indem sie manche Staaten größer erscheinen lassen, als sie im Vergleich zu anderen tatsächlich sind. Ein weiterer Buchbeitrag plädiert deshalb dafür, dass heutige Herausgeber historischer Atlanten sich die Wirkung der gewählten Projektionsform vergegenwärtigen sollten. Zwar mache die durchgängige Beibehaltung einer bestimmten Form die Karten untereinander besser vergleichbar. Doch der Gebrauch verschiedener Projektionsarten ermögliche es, die Karten besser an das jeweilige Thema und den jeweiligen Kontext anzupassen. Keine der vielen verschiedenen Projektionsmöglichkeiten in die Ebene könne die akkurate Abbildung der Erdoberfläche für sich beanspruchen; durchweg beruhten sie auf Kompromissen.
Die insgesamt 16 Beiträge des Buchs bieten einen sehr detaillierten Einblick sowohl in die Produktionsbedingungen als auch in die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der Mercator-Karten. Es gelingt den Autoren, Mercator in den wissenschafts- und kulturhistorischen Kontext seiner Zeit einzubetten und den Lesern die politischen und historischen Probleme der Kartografie bewusst zu machen. Für eine ergiebige Lektüre sollte man allerdings über Vorkenntnisse auf diesem Gebiet verfügen.
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