Germanen – gab's die wirklich?
Der Begleitband zur Ausstellung auf der Berliner Museumsinsel ist ein ambitioniertes Werk, wollen seine Autoren doch mit Vorurteilen aufräumen und den aktuellen Forschungsstand präsentieren. Und das auf moderne Art und Weise, wie der Buchtitel in Kleinbuchstaben vermuten lässt – die Ausstellung selbst folgt der Konvention. Das Ergebnis ist ein an Informationen überbordendes Werk, das sich eher an Experten wendet als an Laien. Das verrät schon ein flüchtiges Blättern: Textseite folgt auf Textseite, mitunter nicht einmal durch Absätze gegliedert. Titel wie »Der Hortfund von Frauenburg, Kr. Braunsberg« lassen eine enge Perspektive ahnen (die bei der Lektüre tatsächlich nicht an Weite gewinnt). Dann wiederum begeistern Rekonstruktionszeichnungen und prächtige Fotos der Ausstellungsobjekte.
»Die« Germanen haben nie existiert
Vielleicht illustriert solche Gegensätzlichkeit den Zwiespalt, in dem sich manch einer der Autoren offenbar befand: Germanen – darf man sie überhaupt so nennen? Diese Frage ergibt sich durch die jüngeren Geschichte, in der sich Nationalismus und Nationalsozialismus des Begriffs bemächtigten. Zudem haben »die« Germanen nie existiert. Als Cäsar die Bezeichnung »Germani« nutzte, meinte er damit nur eine kleine Gruppe am Niederrhein, doch die Bezeichnung machte in der römischen Ethnografie Karriere. Tacitus, Plinius der Ältere und andere strukturierten mit solchen Sammelbezeichnungen die Welt: Gallier/Kelten lebten im Westen Roms, Skythen/Sarmaten in Osteuropa und dazwischen, von Skandinavien über die Mittelgebirge bis an Rhein und Donau, die Germanen. Indem sie Land und Leute schilderten, kalkulierten die Autoren zugleich die Gefahren und Möglichkeiten der barbarischen Länder.
Mochte sich ein Germane vielleicht nie selbst als solchen bezeichnet haben, liefert diese Tradition eine erste Begründung, bei der Bezeichnung zu bleiben. Die Berliner Ausstellung und ihr Katalog widmen sich dem Versuch, sie auch inhaltlich durch eine charakteristische Kultur zu untermauern.
Dafür liefern Tacitus und Plinius zahlreiche Ansätze – nicht aus eigener Anschauung, sondern auf Grundlage der Berichte anderer. Sie betonten beispielsweise die zentrale Rolle der Landwirtschaft im germanischen Alltag. Dabei beschreibt Tacitus deren Möglichkeiten als kümmerlich und die Bauern als faul: »Sie verlangen vom Boden nur, dass er die Saat aufgehen lässt.« Also keine »mühevolle Arbeit um die Fruchtbarkeit der Ländereien«, kein Anlegen von Obstgärten, wie es die römischen Gutsbesitzer im Grenzbereich vormachten.
Die moderne Archäologie verfügt über Methoden, solche Überlieferungen mit der historischen Wirklichkeit zu konfrontieren. Auch wenn es noch zu wenige archäobotanische Analysen von Bodenproben entsprechender Grabungsorte gibt, bestätigen sie die Schlichtheit der germanischen Landwirtschaft. Man baute im gesamten Kulturraum Gerste, echte Hirse, Emmer, Lein, Leindotter und Ackerbohne an, also anspruchslose Pflanzen, die im Frühjahr ausgebracht und im Sommer geerntet wurden. Danach durfte vermutlich das Vieh auf die Äcker, um es zu düngen. Dass sich die Germanen nicht an römischen Vorbildern orientierten, lag aber wohl nicht an Faulheit. Es waren unruhige, kriegerische Zeiten, offenbar verließen sich die germanischen Gruppen lieber auf Altbewährtes, das mit einem überschaubaren Aufwand gute Ernten lieferte.
Und das mit Erfolg. In den fruchtbaren Tiefebenen und entlang der Flusstäler erstreckte sich ein dichtes Netz von Weilern mit bis zu 100 Einwohnern und Kulthäusern in ihren Zentren – die Vorstellung einer Religion, die nur in heiligen Hainen praktiziert wurde, gilt als ebenso überholt wie Tacitus' Schilderung eines unendlichen, dunklen Urwalds. Aus der Sicht eines Bewohners der damals völlig entwaldeten Mittelmeerregionen könnten die waldreichen Mittelgebirge allerdings so gewirkt haben.
Zum Reich der Propaganda gehört wohl die Vorstellung, Germanien sei ein an Rohstoffen armes Land gewesen, das zu erobern die Römer aufgaben, weil sich der Aufwand nicht lohnte. Vielmehr wurden Eisenerze verhüttet, Buntmetall und Blei gewonnen. In einem unterschieden sich die Gebiete nördlich von Rhein und Donau aber tatsächlich von Gallien: Etablierte Hierarchien mit Anführern an der Spitze fehlten. Mit wem hätten die Römer in jener Phase Bündnisse schließen sollen? Dass die Germanen hingegen gefährliche Krieger waren, die sich nach Belieben zusammenscharen konnten, um auf Beutezug zu gehen oder ihr Gebiet zu verteidigen, das wusste Rom spätestens seit der verlorenen Varusschlacht.
Letztlich vermittelt der Katalog »germanen« die Vorstellung eines riesigen Kulturraums, den vieles einte, nicht zuletzt das Bestreben, vom Römischen Reich zu nehmen, was gefiel und gebraucht wurde. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.
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