»Gesellschaftliche Grundbegriffe«: Wenn Begriffsklaubereien einen verzweifeln lassen
»Schon gut! Nur muss man sich nicht allzu ängstlich quälen; / Denn eben wo Begriffe fehlen, / Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein. / Mit Worten lässt sich trefflich streiten, / Mit Worten ein System bereiten …« Wie Mephisto in Goethes »Faust« den Schüler verwirrt, so ist man es oft in vielen Debatten: Der Streit um Worte überlagert die Diskussion über Inhalte. Vor allem in den sozialen Medien werden Begriffe oft inflationär verwendet und so zu bloßen Wörtern degradiert.
Zur rechten Zeit kommt daher das Buch des Münchener Soziologen und Systemtheoretikers Armin Nassehi. Ähnlich wie die Vorbilder »Historisches Wörterbuch der Philosophie« und »Geschichtliche Grundbegriffe«, beide aus den frühen 1970er Jahren, überprüft er »Gesellschaftliche Grundbegriffe« auf ihr Eigenleben inner- und außerhalb der Soziologie. Sein Ziel ist es, »Debatten über sich selbst aufzuklären und sie mit der Möglichkeit auszustatten, Begriffe als Begriffe und nicht nur als Wörter zu gebrauchen.«
Von Demokratie, Freiheit und Fremdheit über Konflikt und Kultur bis hin zu Populismus, Technik und Wissen befragt Nassehi 19 heute gängige Begriffe »empirisch daraufhin …, welche performative Funktion sie in gegenwärtigen Debatten haben und wofür sie gebraucht werden …« In alphabetisch geordneten, ähnlich aufgebauten und jeweils 15 bis 25 Seiten langen Essays geht der Autor zudem der Frage nach, wie diese Begriffe sich im öffentlichen und wissenschaftlichen Gebrauch unterscheiden und für welches Problem der jeweilige Begriff die Lösung ist.
»Identität« als Lösung des Problems allzu vieler Möglichkeiten
Erläutert sei dies am Beispiel »Identität«. Nassehi beginnt diesen Essay mit Roland Barthes‘ These vom »Tod des Autors«, mit der dieser 1968 eine heftige Diskussion in der Literaturwissenschaft ausgelöst hatte: Barthes zerstörte damals die enge Verzahnung von Autor und Text und wertete somit die Selbständigkeit des Textes für die Rezeption auf. Der Text erzeuge den Autor, nicht umgekehrt. Die »Urheberschaft dessen, was wir denken und tun« beruhe, so erläutert Nassehi, auf vorheriger Rezeption und erworbenem Wissen. Der Autor werde nach Barthes zu einer »Funktion« wechselseitiger Rollenerwartungen.
Heute erlebten wir, so Nassehi, infolge der Identitätspolitik eine »Wiederkehr des Autors«: »Selbstidentifikation und Fremdidentifikation« seien an der Tagesordnung. »Wer spricht, ist das eine Thema, und wer sprechen darf und wem das Sprechen abgenommen wird, ein zweites.«
Mit Rekurs auf die Philosophen Habermas, Kant, Wittgenstein und – nicht explizit – Aristoteles sowie den Psychoanalytiker Erikson untersucht Nassehi, »für welches Problem der Identitätsbegriff die Lösung« ist. Seine Antwort: Identität helfe dem Individuum, sich gegen Kontingenz zu stemmen, gegen die »Erfahrung unendlich vieler Möglichkeiten«. Die Lösung bestehe darin, »mögliche Selbst- und Fremdbeschreibungen« zu stabilisieren, sie gegen zu viel Differenz zu schützen und »zeitfest« zu machen. Selbst ganze Gruppen verwendeten den Identitätsbegriff, um sichtbar zu werden und sich Anerkennung zu verschaffen, so etwa »People of Color«, LGBTQIA* et cetera. Identität werde so zur »Chiffre für die emanzipatorische Vergewisserung von Gruppen und Kollektiven.«
Auch die anderen Essays folgen diesem Schema: Ein Begriff wird vorgestellt, sein Zusammenhang erläutert, ein Bezugsrahmen hergestellt und schließlich das Problem untersucht, für das der jeweilige Begriff als Lösung dient oder angesehen wird. Nassehi zeigt, dass gesellschaftliche Debatten heutzutage auf der sozialen Ebene eskalieren, weil die Akteure scheinbar nicht in der Lage sind, Probleme aufgrund ihrer Komplexität auf der Sachebene zu klären. Diesen Zusammenhang hat Nassehi in seinem Buch Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft (2021) ausführlich diskutiert.
Der Autor greift in seinen Formulierungen oft auf eigene Texte zurück, integriert sogar gelegentlich frühere Essays unverändert in die neuen Texte dieses »Glossars«. Das ist durchaus legitim und entwertet es keineswegs. Ein ausführlicher Anmerkungsapparat und ein Stichwortregister mit Querverweisen innerhalb der 19 Begriffe ergänzen das Werk. Leider hat der Autor auf ein Literaturverzeichnis verzichtet – ein Verzicht, der den Überblick über die verwendete Literatur und genutzten Übersetzungen antiker Philosophen erschwert.
Das Buch ist verständlich und gut geschrieben, dabei theoretisch durchaus anspruchsvoll. Manche Formulierung hätte einfacher ausfallen können, wenn der Autor einige sprachliche Kapriolen vermieden hätte. Das Buch ist dennoch uneingeschränkt jedem dringend zu empfehlen, der sich in gegenwärtigen gesellschaftlichen Debatten mitunter verloren vorkommt.
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