Von Gespür bis Verzerrung
Der renommierte Krebsforscher und Autor Siddharta Mukherjee, 2011 mit dem Pulitzer-Preis für Sachbücher ausgezeichnet, nimmt den Leser in diesem Büchlein mit zu seinen Anfängen als Medizinstudent in den USA. Er stand damals vor dem Problem, dass er zwar viele Fakten und Therapiemöglichkeiten kennen gelernt hatte, es ihm aber an Regeln für ihre Anwendung mangelte. Wann und bei wem sollte er sinnvollerweise wie verfahren?
Die erste Regel, die der junge Mediziner für sich aufstellte: "Ein gutes Gespür ist besser als ein schwacher Test." Da man für eine Diagnose nicht jeden Patienten auf alle möglichen Krankheiten testen kann, sollte man ihn anhand aller verfügbaren Informationen sorgsam einschätzen und erst dann entscheiden, auf welche Erkrankungen man ihn untersucht. In eine solche Entscheidung spielen manchmal auch zufällige Beobachtungen hinein – etwa wenn man den vermeintlichen Krebspatienten auf der Straße mit einem Dealer sieht und plötzlich begreift, dass er heroinsüchtig und eventuell HIV-infiziert ist. Der Punkt: Führt man die falschen Tests mit dem Patienten durch, bekommt man keine aussagekräftigen Ergebnisse und lenkt die Diagnostik aufs falsche Gleis.
Bei den Ausreißern wird es richtig interessant
Regel Nummer zwei: "'Normalos' lehren uns Regeln, 'Ausreißer' lehren uns Gesetze." Wenn eine Behandlung bei einigen wenigen Teilnehmern einer klinischen Studie wirkt, beim großen Rest jedoch scheitert, sollte man das nicht als "anekdotische Fälle" abtun. Denn häufig verweise so etwas auf systematische Schwachstellen in unserem Verständnis, wie der Autor schreibt. Er nennt das Beispiel einer einzelnen Krebspatientin, die im Gegensatz zu 44 weiteren auf einen neuen Wirkstoff ansprach. Eine Sequenzierung ihres Genoms ergab, dass unter anderem zwei bestimmte Gene mutiert waren. Die nachträgliche Sequenzierung des Erbguts aller anderen erklärte dann, warum die Therapie bei ihnen versagt hatte: Es war bei ihnen entweder nur eines oder keines dieser Gene mutiert.
Mukherjees dritte Regel: "Für jedes perfekte medizinische Experiment gibt es eine perfekte menschliche Verzerrung." Der Autor meint damit unter anderem, dass Studienergebnisse oft verzerrt werden, weil Mediziner die Teilnehmer unabsichtlich selektieren – auf Grund sachlicher Umstände und/oder getrieben von dem Wunsch, den Patienten zu helfen. Gerade das Streben nach medizinischer Perfektion, zeigt Mukherjee, kann zu verhängnisvollen Verzerrungen führen.
Die Messung beeinflusst das Ergebnis
Der Autor präsentiert viele lehrreiche Anekdoten aus dem Klinikalltag. Sie regen durchweg zum Nachdenken an, auch wenn der Mediziner seine Schlussfolgerungen daraus teilweise zu wenig erläutert. Eine Besonderheit seiner Disziplin, schreibt er, liege darin, dass das Studiensubjekt der nicht passive Patient ist und dieser allein durch seine Teilnahme an einer Studie sowohl psychischen als auch physischen Veränderungen unterliegt. Das gilt freilich ähnlich auch für andere Wissenschaften.
Der Band ist aus einem TED-Vortrag hervorgegangen und dementsprechend sehr knapp gehalten: Trotz seines Taschenbuchformats hat er nur 96 Seiten. Es ist klar, dass er nicht sehr tief greifend oder gar erschöpfend sein kann, weshalb der Preis von 12,99 Euro recht hoch erscheint. Davon unbenommen ist das Buch flüssig zu lesen, bietet liebevolle anatomische Skizzen und wirft nebenbei einen kritischen Blick auf die Medizingeschichte.
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