Die Natur des Handelns
Es ist kompliziert – das ist die kurze Antwort auf die Frage, warum wir uns so verhalten, wie wir es tun. Denn unsere besten und schlimmsten Verhaltensweisen zu erklären, ist das ambitionierte Ziel, das Robert Sapolsky, Neurowissenschaftler an der Stanford University, in seinem neuen Werk verfolgt. Unter all seinen Büchern ist dies das mit Abstand umfang-, aber auch lehrreichste. Die knapp 900 Seiten (ohne Anhang) geben tiefe Einblicke in die (Ab-)Gründe menschlichen Verhaltens: warum wir Menschen töten, foltern oder mobben, aber gleichzeitig unser Leben für andere riskieren und den Schmerz von völlig Fremden fühlen.
Im ersten, gut strukturierten Teil des Buchs liefert er grundlegendes Wissen über unser Verhalten. Er erläutert, wie Hormone, Gene, die Umwelt, unsere Entwicklung und die Neurobiologie unseres Gehirns, aber auch die Evolution und Kultur unser Denken, Fühlen und Handeln beeinflussen. Dabei stellt er zwei Punkte unmissverständlich klar: Erstens, Verhalten lässt sich nicht nur durch eine dieser Ebenen erklären. Zweitens, der Kontext ist entscheidend.
Für diese These liefert er sogleich Beispiele: So ist die klassische Annahme, ein hoher Testosteronspiegel führe zu aggressivem Verhalten, nicht richtig. Erhöhte Werte dieses Hormons verstärken vielmehr Verhaltensweisen, die nötig sind, um den eigenen Status zu bewahren. Das kann aggressives Dominanzverhalten sein – aber ebenso auch ein freundlicher und fairer Umgang mit anderen. Welche Reaktion auftritt, hängt vom Kontext ab. Das Problem besteht laut Sapolsky weniger darin, dass Testosteron Aggression fördert, sondern darin, dass die Gesellschaft Aggression so häufig belohnt. Entscheidend für uns sei, gegen wen sie sich richte und wie, wann und wo sie sich äußere. Wenn sich Footballspieler auf dem Rasen gegenseitig zu Boden reißen, jubeln wir. Verprügeln sie sich nach dem Spiel, finden wir das dagegen nicht in Ordnung.
Distanz fördert prosoziales Handeln
Im zweiten Teil des Buchs versucht der Autor, verschiedene menschliche Verhaltensweisen zu erklären, etwa Gehorsam und das automatische Kategorisieren in "wir" und "sie", aber auch die ausgesprochene Fähigkeit zur Empathie und Kooperation. Dabei nutzt er die im ersten Teil vermittelten Grundlagen, um zum Beispiel zu erläutern, warum wir eher helfen, wenn wir uns vorstellen, wie sich etwas für eine andere Person anfühlt, als wenn wir uns ausmalen, selbst in der Situation zu stecken. Bei Letzterem wird der Schmerz des anderen zum eigenen – den wir dann lieber zu vermeiden versuchen. Eine gewisse Distanz ist somit für prosoziales Handeln entscheidend.
Der Biologe begnügt sich aber nicht nur mit der Erklärung menschlichen Handelns, sondern gibt darüber hinaus konkrete Tipps, wie man "gutes" Verhalten fördern und "schlechtes" mindern kann. Denn die Tendenz der Menschen, einander Schaden zuzufügen, sei weder universell noch unvermeidlich. Beispielsweise könne man Wir/Sie-Kategorisierungen mit all ihren Folgen mindern, indem man die anderen nicht als Gruppe, sondern als Individuen wahrnehme und versuche, die Situation aus ihrer Perspektive zu betrachten.
Zudem räumt der Autor mit vielen Missverständnissen auf und wirft spannende Blicke hinter die Kulissen des Wissenschaftsbetriebs. So bremsten einzelne einflussreiche Forscher den wissenschaftlichen Fortschritt, indem sie neue Ergebnisse wie die adulte Neurogenese – die Bildung neuer Nervenzellen beim Erwachsenen – über Jahrzehnte kleinredeten oder die Relevanz anderer Erkenntnisse aufbauschten. Auch sei noch lange nicht bewiesen, dass Spiegelneurone ein Grund für unser Einfühlungsvermögen sind – trotzdem halten einige Forscher mit Vehemenz an dieser Idee fest.
Sapolsky erläutert zahlreiche Studien und veranschaulicht einzelne Aspekte gelegentlich durch Bilder und Grafiken. Viel häufiger greift er aber auf persönliche Erlebnisse, Erfahrungen aus der Lebenswelt der Leser und historische oder zeitnahe Beispiele zurück, wie den Völkermord in Ruanda und die Ermordung von Afroamerikanern durch weiße Polizisten.
Wie in einer mitreißenden Vorlesung
Im Gegensatz zum ersten Teil fehlt dem zweiten Abschnitt ein wenig der rote Faden. Trotz des schwierigen Sachverhalts kann man den Erläuterungen des Autors, bis auf wenige Ausnahmen, aber sehr gut folgen. Durch seinen unterhaltsamen Schreibstil hat man beim Lesen oft das Gefühl, in einer mitreißenden Vorlesung zu sitzen, die einen immer wieder zum Lachen, aber auch zum Nachdenken bringt. Die pointierten Sätze am Ende vieler Absätze sowie die Zusammenfassungen am Schluss der meisten Kapitel machen es einem leicht, die Quintessenz zu verstehen und sich diese zu merken.
Das wissenschaftlich fundierte Werk mit fast lehrbuchhaftem Charakter ist daher ein Muss für jeden Studenten der Biologie und Psychologie – und für Juristen. Schließlich beeinflusst die Biologie unseres Verhaltens ebenso die Rechtsprechung.
Zum Schluss wünscht sich Sapolsky von den Lesern mehr "gutes" Verhalten. Eine von ihm untersuchte Paviangruppe bewies ihm einst: Selbst diese als eher aggressiv geltende Affengattung kann unter bestimmten Bedingungen friedfertiger werden. Wenn andere Primaten das können, sollten wir erst recht dazu in der Lage sein.
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