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Neurowissenschaft des Glaubens

Der Psychiater und Neurologe Boris Cyrulnik befasst sich mit den Chancen und Gefahren religiöser Überzeugungen.

Rund um den Globus bereiten sich Menschen derzeit auf Weihnachten vor. Religiöse Feste wie dieses sind laut dem französischen Psychiater und Neurologen Boris Cyrulnik ein Mittel, uns »emotional zu synchronisieren«. Cyrulnik berichtet in diesem Buch von neurowissenschaftlichen und psychologischen Erkenntnisse darüber, warum manche an Göttliches glauben und andere nicht, wie wohltuend und hilfreich ein solcher Glaube sein kann, aber auch, wie engstirnig und gefährlich er mitunter ist.

Eigentlich forscht der Autor über die Themen Resilienz (die Widerstandskraft der Psyche) und Bindung. Doch eine Begegnung mit Kindersoldaten im Kongo hat ihn vor zehn Jahren dazu gebracht, religiösen Glauben im Licht dieser zwei Forschungsgebiete zu betrachten. Seine Ergebnisse fasst er in diesem Werk zusammen, das zwar zu ausführlich geraten ist, aber dennoch wichtige Anstöße liefert, sich mit den eigenen Überzeugungen und denen anderer auseinanderzusetzen. Heute hätte er die Frage eines traumatisierten Kindersoldaten beantworten können, warum dieser sich nur in der Kirche glücklich fühle, schreibt Cyrulnik.

Vom präfrontalen Kortex zum limbischen System

Erst unsere Fähigkeit zur Abstraktion ermögliche es uns, überhaupt zu glauben, meint der Autor. Sobald wir mit dem Sprechen begännen, könnten wir metaphysische Vorstellungen und erhebende Gefühle in eine »kulturelle Form gießen«, die wir in Gruppen teilten und von Generation zu Generation weitergäben. Tatsächlich begreifen könnten wir Religion jedoch erst, wenn wir im Alter von sechs bis acht Jahren eine Vorstellung vom Tod und von Dingen entwickelten, von denen andere berichten, die sie selbst aber nicht unmittelbar sehen können. In dieser Lebensphase entwickelten sich neuronale Verbindungen zwischen dem präfrontalen Kortex und dem limbischen System, so Cyrulnik.

Je nachdem, wie wir zu lieben gelernt hätten, könnten wir später eine stabile, wohltuende Bindung zu einem Gott aufbauen oder neigten diesbezüglich zu Zweifeln, schreibt der Autor. Menschen, die in den ersten Lebensmonaten wenig Zuwendung bekommen hätten, falle es später schwerer, ihre Emotionen zu kontrollieren. Ihnen könnten strenge Glaubensregeln Sicherheit geben; von »Ungläubigen« fühlten sie sich deshalb mitunter bedroht.

Cyrulnik beschreibt, wie eng beieinander Angst und ekstatisches Glück liegen: Sie basierten auf neuronalen Aktivierungsmustern, zwischen denen das Gehirn routinemäßig hin- und herwechsle, um Verlangen und Sättigung zu regulieren. Das erkläre, warum wir uns im Angesicht des Todes oder bei ähnlich extremen Erfahrungen urplötzlich dem Göttlichen ganz nah fühlen. Der Glaube sorge für Beruhigung in Situationen, denen wir sonst schutzlos ausgeliefert seien. Der Neuropsychiater führt auf, welche Hirnregionen dabei eine Rolle spielen: Menschen etwa, die täglich Gewalt erfahren müssten, reagierten infolge der ständigen Stimulierung des rechten Frontallappens sensibler auf negative Affekte und ordneten sich bereitwilliger einer spirituellen Lehre unter.

Was unterscheidet religiöse von nichtreligiösen Menschen? Atheisten, meint der Autor, brauchten die Sicherheit nicht, die ein Leben nach religiösen Regeln biete, und hätten stattdessen andere Mittel gefunden, sich zu beruhigen und zugehörig zu fühlen.

Leider ist es nicht immer einfach, den roten Faden des Buchs zu erkennen. Doch durch die akzentuierte Wiederholung seiner wichtigsten Erkenntnisse schafft es der Autor dennoch, seine Botschaft herauszustellen. So betont er, Spiritualität sei ein universell menschliches Phänomen und Religion lediglich eine kulturelle Form, in die diese gegossen werde. Immer wieder spickt Cyrulnik seine Ausführungen mit historischen Beispielen. So berichtet er mehrfach davon, welchen Einfluss der Holocaust auf die Religiosität jüdischer Menschen hatte. Der Autor selbst ist jüdischer Abstammung, seine Eltern kamen beide im Konzentrationslager um.

Nichtreligiösen Leser(inne)n zeigt Cyrulnik auf, wie der Gottesglaube Menschen Kraft geben kann; Gläubige hingegen warnt er eindringlich vor Abschottung. Er stellt in seinen Betrachtungen keine religiöse Überzeugung über eine andere – ganz so, wie es im täglichen Leben auch sein sollte.

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