Göttliche Proportion und menschliche Deutung
Ich gestehe, dass mir der Name Adolf Zeising (1810–1876) bislang nicht geläufig war. Dabei ist der Einfluss dieses Gelehrten kaum zu überschätzen. Zeising war derjenige, der dem Teilungsverhältnis des Goldenen Schnitts eine überragende ästhetische Bedeutung zuschrieb. Seine Zeitgenossen nahmen seine "Neue Lehre von den Proportionen des menschlichen Körpers" (1854) begeistert auf und suchten jene Proportionen nicht nur in der belebten Natur, sondern auch in den verschiedensten Kunstwerken. Die Vorstellung, Maler aller Epochen hätten ihre Bildfläche zunächst im Verhältnis 1,618 : 1 zerlegt und die wichtigsten Bildelemente auf den Teilungslinien platziert, ist ins allgemeine Bewusstsein übergegangen.
Nur bleibt von dieser Idee unter dem kritischen Blick der Kunsthistoriker so gut wie nichts übrig. In keinem überlieferten Dokument hat je ein Künstler beschrieben, dass er diese Technik beim Komponieren eines Bilds angewendet habe. Und bei näherer Betrachtung erweisen sich die vermeintlichen Belege in existierenden Kunstwerken als ungenau oder willkürlich. Irgendein Element findet sich immer, das mehr oder weniger präzise auf einer Teilungslinie liegt; das muss man dann nur noch zum bedeutendsten Bildteil hochinterpretieren.
Verhärtete Fronten
Inzwischen herrscht offenbar Krieg zwischen den Vertretern der zeisingschen Ideen und jenen, die sie dekonstruieren – eine Debatte so heftig, dass für irgendwelche Kompromisspositionen kein Platz bleibt. In diesem Schlachtgetümmel ist es durchaus mutig, wenn die Museumsstiftung Post und Telekommunikation eine Ausstellung zum Thema präsentiert (Museum für Kommunikation Berlin, 9.9.16 bis 26.2.17; später in den Schwestermuseen in Nürnberg und Frankfurt). Das vorliegende Buch ist der Begleitband dazu. Redlich versuchen die Ausstellungsmacher, beiden Seiten gerecht zu werden, aber am Ende stehen die Zeising-Fans eindeutig als Verlierer da. Der Berliner Kunsthistoriker Werner Busch findet zwar zu zwei Zeichnungen von Caspar David Friedrich sehr fantasievolle und tiefsinnige Deutungen, bestätigt damit aber unfreiwillig und ziemlich drastisch den Willkür-Vorwurf der Gegenseite.
Zeising hat noch etwas anderes durcheinandergebracht. Eigentlich hieß der Schnitt nicht golden, sondern göttlich – der Mathematiker Luca Pacioli (1445–1514) hat die Zerlegung einer Strecke in zwei Teile, von denen der kleinere zum größeren sich verhält wie der größere zum Ganzen, als "divina proportio" bezeichnet. In der Mathematik genießt dieses Verhältnis durchaus zu Recht einen prominenten Status. Die Zahl φ=(1+√5)/2 ist das Verhältnis von Diagonale zu Seite des regelmäßigen Fünfecks; das wiederum verschafft den "goldenen Dreiecken" (gleichschenkligen Dreiecken mit dem Seitenverhältnis φ oder 1/φ) die Hauptrolle bei der Konstruktion der nichtperiodischen Penrose-Parkette. Dividiert man jedes Glied der Fibonacci-Folge (das ist die mit der Vermehrung der Karnickel) durch seinen Vorgänger, so streben die Quotienten gegen φ; und φ ist die irrationalste unter den irrationalen Zahlen in dem Sinn, dass sie sich am hartnäckigsten gegen die Approximation durch rationale Zahlen sträubt. Um diese Themen zu behandeln, bekommt Albrecht Beutelspacher, der Gründer des Gießener Mathematikmuseums, immerhin ein Kapitel Platz – die einzige Passage, die in diesem Buch über ein eigentlich mathematisches Thema ernsthafte Mathematik bietet.
Aber wenn schon nicht in der Kunst, so hat doch zumindest in der Pflanzenwelt der Goldene Schnitt einen legitimen Auftritt. Die Heidelberger Botaniker Peter Leins und Claudia Erbar demonstrieren, warum Pflanzenteile wie Sonnenblumenkerne, die Blätter des Rotkohls sowie die Schuppen am Tannenzapfen und auf der Ananas in ihrer Anordnung aufeinander folgende Fibonacci-Zahlen und im Grenzwert eben auch die Zahl φ realisieren.
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