In 25 Lebensläufen durch die Zeit
Ian Stewart ist dem interessierten Publikum seit vielen Jahren bekannt, einerseits aus den mathematischen Unterhaltungen in »Spektrum der Wissenschaft«, andererseits aus seinen mehr als 80 fach- und populärwissenschaftlichen Büchern, von denen Spektrum der Wissenschaft schoneinigerezensiert hat. Der emeritierte Professor der University of Warwick (England) hat diverse Auszeichnungen erhalten – zuletzt den »Euler Book Prize« der Mathematical Association of America. Es gibt wohl nur wenige Autoren, die in so beeindruckender Weise in der Lage sind, mathematische Sachverhalte unterhaltsam und verständlich darzustellen.
Angesichts dessen, in welch kurzen Abständen Stewarts Bücher zuletzt erschienen, war es nur eine Frage der Zeit, bis er endlich auch ein Werk zur Geschichte der Mathematik veröffentlichen würde. Dass er die Entwicklung der verschiedenen Teilbereiche nicht allgemein beschreibt, sondern stellvertretend an 25 Persönlichkeiten lebendig werden lässt, entspricht seiner besonderen Begabung des Geschichten-Erzählens.
Erlesener Kreis
Nur 25 »große« Mathematiker(innen)? Schon bei der Durchsicht des Inhaltsverzeichnisses fallen die Lücken auf: Was ist mit Euklid, Leibniz, den Bernoullis, Cauchy oder Weierstrass? Nun, auch diese kommen im Buch vor, wenn auch lediglich in Nebenrollen. Bei einer Beschränkung auf knapp 500 Seiten – im etwas größerformatigen englischen Original 300 Seiten – konnte Stewart nur vergleichsweise wenige Personen berücksichtigen. Zudem war es ihm wichtig, jeweils einen Vertreter der chinesischen und der klassischen indischen Mathematik sowie des islamischen Kulturkreises in die Liste aufzunehmen: Liu Hui, Muhammad al-Khwarizmi und Madhava. Und im Gegensatz zu seinem berühmten Vorgänger Eric Temple Bell (»Men of Mathematics«, 1937) befasst sich Stewart auch mit drei Mathematikerinnen, die mit großen gesellschaftlichen Hindernissen und Vorurteilen zu kämpfen hatten, nämlich Augusta Ada King, Sofia Kowalewskaja und Emmy Noether.
Alle 25 Kapitel beginnen mit einem Bild und den Lebensdaten der jeweiligen Person – und fast immer mit der lebendigen Darstellung eines Ereignisses, das sich so zugetragen haben könnte wie beschrieben. Im Kapitel über Ramanujan etwa erzählt der Autor, wie der britische Mathematiker Godfrey H. Hardy einen Brief des ihm unbekannten Inders öffnete und sich nicht sicher war, ob dies wieder einmal die Zuschrift eines Spinners sei. Anschließend entschuldigt sich Stewart für die Freiheit, Hardys Gedanken wörtlich wiederzugeben, obwohl er keinen Beleg dafür hat. Grundsätzlich aber stützt er sich bei den vielen Anekdoten und Zitaten in seinem Buch auf auf belegbare Quellen und kann so beispielsweise die verschiedenen möglichen Abläufe von Galois’ letzten Stunden einander gegenüberstellen. Das unterscheidet ihn von Eric Temple Bell, der – freundlich ausgedrückt – manchmal etwas großzügig mit den dokumentierten Fakten umgegangen war.
Weitere Abschnitte enthalten umfangreichere Lebensgeschichten der jeweiligen Mathematiker(innen). Im Anschluss geht der Autor darauf ein, welche mathematischen Teilbereiche die entsprechende Person entwickelt hat beziehungsweise welche neuen, bahnbrechenden Impulse dabei von ihr ausgingen. Der Untertitel des englischen Originals (»Lives and Works of Trailblazing Mathematicians«) gibt dies deutlicher wieder als derjenige der deutschen Fassung.
Obwohl der italienische Mathematiker Gerolamo Cardano eine der ausgewählten Persönlichkeiten ist, geht Stewart überraschenderweise nicht konkret auf das Lösen kubischer Gleichungen ein, was vergleichsweise einfach gewesen wäre. Dafür scheut er sich nicht, äußerst komplexe mathematische Theorien zu thematisieren. Durchschnittlich Vorgebildete werden vermutlich noch nachvollziehen können, was der Autor beispielsweise über das »Theorema Aureum« (quadratisches Reziprozitätsgesetz) von Gauss, über Lobatschewskis nichteuklidische Geometrie oder über Cantors Auseinandersetzung mit dem Unendlichen schreibt. Aber spätestens bei der Beschreibung der noether’schen Invariantentheorie und der Probleme mit der Poincaré-Vermutung dürften sie an ihre Verständnisgrenzen gelangen.
Zu einem gewissen Teil liegt dies an der Übersetzung. An manchen Stellen kann man ahnen, wie der englische Originaltext lautet, da die Übersetzungen offensichtlich allzu wörtlich erfolgten, was den Lesefluss durchaus hemmen kann. Den lockeren stewart’schen Plauderstil ins Deutsche zu übertragen, ist sicherlich nicht immer einfach; die Übersetzung Wort für Wort, wie sie im Buch anzutreffen ist, stellt jedenfalls keine Lösung dar. Vor allem aber erscheint es unbefriedigend, dass elementares Fachvokabular so inkonsequent übertragen wurde (»perfekte Quadrate« statt »Quadratzahlen«, »solider Ball« statt »Kugel«, »Zahl« statt » Anzahl«, »kontinuierliche Funktionen« statt »stetige Funktionen«, »geschlossenes Intervall« statt »abgeschlossenes Intervall«).
Den Übersetzern ist vermutlich auch ein gravierender inhaltlicher Fehler auf Seite 160 anzulasten. Dass ein regelmäßiges 17-Eck mit Zirkel und Lineal konstruiert werden kann, liegt nicht daran, dass 17 – 1 = 16 eine Quadratzahl ist, sondern eine Zweierpotenz. Dass die Dezimalpunkte im Zusammenhang mit den cantor’schen Abzählverfahren bereits im englischen Original »verrutscht« waren, hätte bei etwas Sachkenntnis auffallen müssen.
Am Ende des Buchs bringt Stewart noch einen kurzen Abschnitt, in dem er auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede der dargestellten Persönlichkeiten eingeht. Seine These: »...große Mathematiker [denken] mehr in Bildern als in Formeln; sie sind konzentrationsstark, haben ein gutes Gedächtnis, große Ausdauer und folgen gern ihrer Intuition. Die meisten jedenfalls. Allen gemeinsam aber ist eine Besessenheit von Mathematik, die sie über die Zeiten und Länder, über Herkunft und Status hinweg zu herausragenden Wissenschaftlern machte«. Es folgen (leider) nur noch wenige Hinweise auf weiterführende Literatur, dafür aber ein umfangreiches Sach- und Personenverzeichnis.
Das Buch ist allen zu empfehlen, die sich für die Geschichte der Mathematik interessieren und keine Berührungsängste haben, mit der Lektüre Neuland zu betreten. Wer Stewarts Buch im Original liest, umschifft die Mängel der Übersetzung und kann sogar noch etwas Geld sparen.
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