Klotzen und nicht kleckern
Das Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld organisiert jährlich eine Konferenz zu aktuellen, gesellschaftlich bedeutenden Themen. Nach Schwerpunkten in Politik und Wirtschaft standen 2013 die physikalischen Arbeiten am CERN, der europäischen Organisation für Großforschung, im Fokus. Politiker und Wissenschaftler diskutierten auf der Konferenz über die Forschungsprojekte. Ihre Tagungsvorträge kann man im vorliegenden Buch nachlesen.
Den Anfang macht der ehemalige Generaldirektor des CERN, Rolf-Dieter Heuer. Er widmet sich den Zielen und Arbeiten am Teilchenbeschleuniger "Large Hadron Collider" (LHC) und geht auf dessen internationale Ausrichtung ein: Tausende Forscher aus mehr als 20 Staaten wirken hier zusammen. Heuer hebt auch hervor, wie stark das CERN die gesamte Gesellschaft beeinflusst. Das World Wide Web etwa, aus dem heutigen Alltag nicht mehr wegzudenken, wurde in dieser Organisation entwickelt. Ebenso haben die riesigen Datenmengen, die bei den Beschleunigerexperimenten anfallen und ausgewertet werden müssen, zu großen Fortschritten im so genannten Grid Computing geführt. Selbst in der Medizin finden technologische Errungenschaften von CERN-Forschern inzwischen Anwendung.
Zeuge gedanklichen Wandels
Weitere Beiträge erlauben aufschlussreiche Einblicke in personelle, organisatorische, finanzielle und natürlich auch wissenschaftliche Aspekte der Großforschungsanlage. In manchmal sehr persönlich gefärbten Vorträgen schildern sie den Weg von der physikalischen Frage zum Experiment der Superlative. Eine außergewöhnliche Perspektive vermittelt die Wissenschaftsphilosophin Arianna Borrelli. Ihr Team hat die einzigartige Gelegenheit genutzt, Forscher über die gesamte erste Laufzeit des LHC zu begleiten. Die dabei entstandene Studie erlaubt Aussagen darüber, wie Wissenschaftler ihre Einstellungen zu verschiedenen Theorien und Modellen allmählich ändern und welchen Einfluss Entdeckungen wie die des Higgs-Teilchens darauf haben.
"Großforschung in neuen Dimensionen" gibt einen guten Überblick über die Forschungsziele am CERN und die zugehörigen Experimente. Es hebt sich von anderen einschlägigen Publikationen ab, indem es auch die Probleme thematisiert, die an einer so großen und teuren Forschungseinrichtung nicht ausbleiben können.
Die Beiträge in dem Band zielen klar auf eine breite Öffentlichkeit. Dennoch sollte man als Leser(in) einiges an Physikvorwissen mitbringen – oder in Kauf nehmen, viele Fachausdrücke nachschlagen zu müssen. Einige Begriffe werden zwar in Blöcken erläutert, die vom Text abgetrennt sind. Diese Einschübe sind oft sehr ausführlich, allerdings nicht dort platziert, wo der jeweilige Begriff zum ersten Mal auftritt. Mehr, dafür aber knappere Beschreibungen, beispielsweise als Glossar am Ende eines Berichts, wären hilfreich.
Gesprochen und geschrieben
Zudem gibt der Band die Vorträge der Bielefelder Konferenz fast wortwörtlich wieder, was auf Kosten des Lesevergnügens geht. Man hätte die Referate sicherlich redigieren können, ohne dabei deren Authentizität zu zerstören. In der vorliegenden Form jedenfalls wirken die Beiträge teils langatmig und plump. Insgesamt schöpft das Werk daher leider nicht sein volles Potential aus. Positiv hervorzuheben sind allerdings die vielen aufschlussreichen Grafiken und Bilder.
Wer tiefgreifende philosophische Betrachtungen zur modernen Teilchenphysik erwartet, wie sie der Titel vermuten lassen könnte, wird enttäuscht. Wer jedoch einen spannenden, ungeschönten Blick hinter die Kulissen des CERN werfen möchte; wer schon immer wissen wollte, welche Stolpersteine bei einem solch riesigen Projekt auftauchen; oder wer sich für die Wirkung von Großforschungsprojekten auf die Gesellschaft interessiert – dem lässt sich das Werk empfehlen.
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