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»Grüne fahren SUV und Joggen macht unsterblich«: Statistik kann in die Irre führen

Drei Hochschulprofessoren und eine Statistikerin weisen auf häufige Fehler beim Auswerten von Statistiken hin – mit jeder Menge unterhaltsamen Beispielen. Eine Rezension
Verschiedene Grafiken und Diagramme, die Statistik symbolisieren

Seit dem Jahr 2012 veröffentlichen die emeritierten Hochschulprofessoren und Bestsellerautoren Gerd Gigerenzer (Universität Potsdam und MPI für Bildungsforschung, Berlin) und Walter Krämer (Universität Dortmund) sowie der Ökonom und RWI-Vizepräsident Thomas Bauer (Universität Bochum) jeden Monat eine »Unstatistik«, eine Stellungnahme zu einer in den Medien publizierten Statistik und deren Interpretation. Seit 2018 ist die Statistikerin Katharina Schüller ebenfalls Mitglied des Teams. Ziel dieser monatlichen »Unstatistiken« ist es, zu einem sachlichen Umgang mit Daten und Fakten beizutragen.

Macht Schokolade dünn?

Angefangen hatte es mit Kommentaren zur »Armutsgefährdungsquote« in Dortmund, zur Pünktlichkeit der Deutschen Bahn sowie zu der Zeitungsmeldung »Schokolade macht dünn«. Auf diese und zahlreiche andere Meldungen gingen die drei erstgenannten Autoren bereits in ihrem 2016 im Campus-Verlag erschienenen Buch »Warum dick nicht doof macht und Genmais nicht tötet« ein. In den zurückliegenden Monaten spielten bei den »Unstatistiken« häufig Meldungen zu Corona eine Rolle wie »Die Corona-Pandemie lässt Masse und Maße der Deutschen steigen«. Etliche solcher Meldungen der letzten Jahre und der hierzu veröffentlichten Kommentare haben die Autoren nun in ihrem neuen Buch zusammengestellt.

Auch wenn in der letzten Zeit immer wieder Bücher erschienen sind, die sich mit fehlerhaften Statistiken und statistischen Falschmeldungen beschäftigten, werden die Leser und Leserinnen im aktuellen Werk vermutlich auch bisher unbekannte Beispiele finden.

Das Buch ist insgesamt in drei Kapitel gegliedert; das erste, »Denken in Raten«, beginnt mit einer Liste von fünf Grundprinzipien, die beim Rezitieren von Statistiken erfahrungsgemäß nicht immer beachtet werden:

  1. Sicherheit ist eine Illusion. Beispiel: Auch wenn man vollständig geimpft ist, kann man sich mit Covid-19 infizieren.
  2. Ohne genaue Angabe der Referenzklasse sind Angaben sinnlos.
  3. Relative Risiken sind nicht absolute Risiken. Auch wenn medizinische Organisationen weltweit Regeln zur Veröffentlichung von Daten eingeführt haben, halten sich immer noch mehr als die Hälfte der Autoren medizinischer Fachliteratur nicht daran.
  4. Jeder Test macht zweierlei Fehler: wie sich Sensitivität und Spezifität beim Screening auswirken.
  5. Ohne Berücksichtigung der Grundrate sind keine Vergleiche möglich.

In den darauf folgenden Abschnitten gehen die Autoren auf typische Fehler in statistischen Veröffentlichungen ein. Zunächst geht es um die Verwechslung von Korrelation und Kausalität mit verschiedenen Beispielen von Schein- und Nonsenskorrelationen; sie erläutern aber auch, wie man Untersuchungen anlegen sollte, um tatsächliche Kausalitäten nachzuweisen. Hier beschreiben sie als positives Beispiel, wie sich die Wirkung der Maskenpflicht statistisch belegen lässt.

Ein weiteres gefährliches Pflaster sind Meldungen, die auf unseriösen Hochrechnungen beruhen wie »geschätzte 100 000 durch Windenergieanlagen getötete Amseln« oder die sich auf nicht repräsentative Umfragen stützen, wie die Befragung, durch die sich die »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« zur Schlagzeile »Grüne fahren SUV« veranlasst sah.

Am Beispiel der Corona-Inzidenz-Daten machen die Autoren auf das Problem aufmerksam, dass die veröffentlichten Daten nicht unbedingt das messen, was sie messen sollen (beispielsweise lassen sich Infizierte ohne Symptome in der Regel nicht testen).

Natürlich darf in einem Buch über Fehler in statistischen Veröffentlichungen nicht eine Sammlung von misslungenen grafischen Darstellungen fehlen – offensichtlich lassen sich solche nicht ausrotten, obwohl alle typischen Fehler doch hinlänglich bekannt sein sollten (und das Thema mittlerweile sogar zum Standard-Unterrichtsstoff der Mittelstufe gehört).

Das zweite Kapitel des Buchs trägt die Überschrift »Was uns Medien versprechen«. Hier gehen die Autoren in verschiedenen Abschnitten folgenden Fragen nach: »Wie man ewig lebt« (Eine Stunde joggen, sieben Stunden länger leben), »Wie man früher stirbt« (Warnungen vor einem vorzeitigen Tod), »Was künstliche Intelligenz alles (nicht) kann« (mit Beispielen zu Fehlern im Umgang mit bedingten Wahrscheinlichkeiten) sowie »Warum Prognosen immer falsch sind« (Prognosen ohne Angabe der Grundannahmen sind wertlos).

Im dritten und letzten Kapitel »Wie wir uns selbst betrügen« untersuchen die Autoren noch einmal ausführlich einzelne Beispiele, reflektieren den Stand der Statistik-Bildung im Schulunterricht und im Rahmen der Hochschulausbildung, der eigentlich Anlass zur Hoffnung geben sollte, dass in Zukunft weniger Menschen von Zahlenblindheit geschlagen sind, als es in der Vergangenheit der Fall war – selbst in bayerischen Schulen kennt man jetzt Vierfeldertafeln mit absoluten Häufigkeiten).

Insgesamt lebt das Buch von der Fülle an aktuellen Beispielen, die verdeutlichen, wie viel noch zu tun ist. Insofern erfüllt es seinen Zweck, nämlich über die typischen Fallen in der Statistik aufzuklären. Am Ende findet man ein ausführliches Quellenverzeichnis zu den Beispielen.

Da vier Autoren an dem Buch mitgewirkt haben, lassen sich Sprünge und Redundanzen kaum vermeiden. Gleichwohl lässt sich das Werk im Allgemeinen gut und flüssig lesen, es ist anregend und teilweise unterhaltsam geschrieben. Andererseits ist es erschreckend, wenn man bedenkt, was an Unsinn veröffentlicht wurde und welche Konsequenzen das hatte. An einigen Stellen müssen sich die Leser und Leserinnen jedoch Zeit nehmen, um die teilweise komplexen Sachverhalte nachvollziehen zu können.

Wer sein eigenes Verständnis bezüglich der Bedeutung statistischer Daten testen möchte, kann das am Beispiel der ZDF-Talkshow vom 10. November 2021 prüfen:

  • Daten für die Altersklasse 60 plus: 91 Prozent geimpft, 9 Prozent ungeimpft; Infizierte: 60 Prozent geimpft, 40 Prozent ungeimpft; Verstorbene: 43 Prozent geimpft, 57 Prozent ungeimpft.
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