Von der Zeitverschwendung zum Kraftquell
Die einen sehen Schlaf als lästige Zeitverschwendung, die anderen preisen ihn als Quell der Inspiration und Erholung. Doch die Bewertung des Schlummers unterscheidet sich nicht nur von Mensch zu Mensch, sondern auch zwischen verschiedenen historischen Epochen. Diesen Wandel dokumentiert die Kulturwissenschaftlerin Karoline Walter in ihrem Buch. Während wir heute wissen, dass Schlaf für etliche, wenn nicht die meisten Tiere – darunter uns – lebensnotwendig ist und maßgeblichen Einfluss auf die Gesundheit hat, konnte man sich in früheren Zeiten kaum einen Reim darauf machen, wozu er gut sein könnte. Er wurde mit negativen Kräften, Geistern und dem Tod in Verbindung gebracht. Verstärkt wurde dieser Eindruck durch Todesfälle, die während des Schlummers auftraten, vor allem bei Kleinkindern.
Im Hauptteil des Buchs zeichnet die Autorin den »Weg der Wachheitsgesellschaft« nach, also die Entwicklung von vorindustriellen Gemeinschaften, in denen die Menschen ihre Ruhezeiten am Sonnenstand ausrichteten, hin zur heutigen Gesellschaft, in der die Grenzen zwischen Tag und Nacht durch künstliches Licht, ständige Erreichbarkeit und fluiden Lebenswandel mehr und mehr verschwimmen. Walter erklärt unter anderem, warum Mittagsschlaf früher so wichtig und die Mittagsstunde als Geisterstunde gefürchtet war, weshalb die Menschen während der langen nächtlichen Dunkelheit ohne künstliches Licht in zwei Phasen schliefen, welche Bedeutung den Träumen in der Romantik zukam, oder wie der Schlaf und das Aufwachen daraus in der Biedermeierzeit zum Politikum wurde.
Schlaflos in den Kampf
So wie der Schlaf im Mittelalter generell als tatenlose und somit sündhafte Zeit galt, erklärten ihn besonders produktive Menschen – etwa der amerikanische Erfinder und Staatsmann Benjamin Franklin – in allen Epochen als Zeitverschwendung und entwickelten Methoden, ihn extrem einzuschränken. Einen groß angelegten Feldzug zur Eindämmung des Schlafs führten die Nationalsozialisten, die ihre Soldaten regelmäßig mit Methylamphetamin (»Panzerschokolade«), heute bekannt als Crystal Meth, aufputschten. Die Kämpfer empfanden damit weniger Müdigkeit, Erschöpfung, Angst und Hunger, was den »Blitzkrieg« mit ermöglichte.
Als so genannter Powernap avancierte der Schlaf später von einer Notwendigkeit, der man sich hingeben musste, zu einem Werkzeug der Selbstoptimierung und Leistungssteigerung, wie die Autorin darlegt. Sie behandelt auch die Auswirkungen des Schlafentzugs und beschreibt, wie dieser bis heute als spurenlose Foltermethode eingesetzt wird.
In einem eigenen Kapitel widmet sich Walter dem Schlaf in der Öffentlichkeit und wie unterschiedlich dieser in verschiedenen Kulturkreisen bewertet wird. Bei uns eher verpönt und oft als Zeichen des Protests eingesetzt (etwa in der Hippie- oder Punkkultur oder jüngst im britischen Parlament), ist das öffentliche Schlafen in asiatischen Gesellschaften mit hohem Leistungsdruck ein respektiertes Verhalten, das als Beleg einer vorausgegangenen Anstrengung gilt. Ein weiterer Abschnitt beleuchtet die Besonderheiten des kindlichen Schlafs. In diesem Zusammenhang analysiert die Kulturwissenschaftlerin die Texte von Wiegenliedern – darunter das weltweit wohl berühmteste von Johannes Brahms, das dem Buch den Titel gegeben hat. Näher betrachtet sind die Texte der meisten Schlaflieder allerdings kaum kindgerecht, sondern oft sogar ausgesprochen unheimlich, wimmelt es darin doch nur so von Geistern und Monstern. Warum das so ist, erklärt die Autorin schlüssig und packend.
Am Ende des Werks, im Abschnitt »Neue Formen des Schlafs« führt uns Walter in die Zukunft des Schlummers und betrachtet Phänomene wie den »Übermenschenschlaf«, den »Erlebnisschlaf« sowie Wachträume. Als Übermenschenschlaf bezeichnet er eine Form des mehrphasigen Schlummers, bei dem das Verteilen kürzerer Schlafblöcke über den Tag hinweg die Gesamtschlafzeit radikal verkürzen soll. Das ist sicherlich nicht für jeden praktikabel und wahrscheinlich mit negativen sozialen Folgen verbunden, denn wenn alle schlafen, wann sie möchten, bleibt immer weniger Zeit für gelebte Gemeinschaft. Ähnlich könnte es sich mit dem Erlebnisschlaf verhalten, einer Art inszeniertem Schlummer im Museum oder Theater, der zwar in Gemeinschaft stattfindet, aber wohl doch nur Raum für persönliches Erleben lässt. »Guten Abend, gute Nacht« ist eine spannend geschriebene und ausgesprochen lehrreiche Kulturgeschichte darüber, welche Rolle der »kleine Bruder des Todes« in der Gesellschaft spielt(e).
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