Koloss auf tönernen Füßen?
Das Habsburgerreich gilt vielfach als überholter und "verknöcherter" Vielvölkerstaat, der – unfähig, seine ethnischen Probleme im Innern zu lösen – wie ein Koloss auf tönernen Füßen taumelte, bis seine politische und militärische Führung Europa in den Ersten Weltkrieg stürzte.
Ganz anders sieht dies der amerikanische Historiker Pieter Judson. Er kommt in der vorliegenden kühnen Studie zu dem Schluss, das Habsburgerreich sei eine fortschrittliche und moderne Macht gewesen. Dabei stützt er sich auf umfangreiche eigene Studien sowie auf diejenigen anderer Historiker, welche das Habsburgerreich als effizient verwaltetes Gemeinwesen mit florierender Wirtschaft und Kultur ansahen, in dem Angehörige verschiedener Ethnien gleichermaßen von den "gemeinsamen imperialen Institutionen, administrativen Praktiken und kulturellen Programmen" profitierten.
Judson beginnt mit den wirtschaftlichen und sozialen Reformen, die unter Maria Theresia (1717-1780), Joseph II. (1741-1790) und Leopold II. (1747-1792) angestoßen wurden, um einen modernen bürokratischen Verwaltungsapparat aufzubauen. Er beschreibt diese staatlichen Anstrengungen als Versuche, die disparaten habsburgischen Territorien in einem Reich mit gemeinsamen Institutionen zusammenzuschweißen. Die Haupthindernisse jener Reformen bestanden in der Vielfalt der Sprachen, Kulturen, Religionen, Traditionen und Interessengruppen sowie in den Privilegien örtlicher Adelsstände und Parlamente.
Die Erneuerungsbemühungen ebbten mit dem Ausbruch der Französischen Revolution und den darauf folgenden Napoleonischen Kriegen merklich ab. An deren Ende hielt eine Restauration Einzug im Habsburgerreich, die untrennbar mit dem Namen des Staatskanzlers Metternich (1773-1859) verbunden ist.
Reformdruck
Der große Wandel kam mit den Revolutionen von 1848. Brillant zeigt Judson auf, wie sich im habsburgischen Vielvölkerreich Forderungen nach liberalen Reformen mit dem drängender werdenden Nationalitätenproblem vermengten. Der Historiker analysiert die heterogene Mischung aus gegensätzlichen Kräften und Ideen der verschiedenen politischen und ethnischen Gruppen. Er kommt zu dem Schluss, dass – obwohl Liberale, Föderalisten, Großdeutsche, tschechische wie ungarische Nationalisten gegeneinander arbeiteten – nur wenige wirklich illoyal gegenüber Dynastie beziehungsweise Reich gewesen seien. Die Mehrzahl habe sich vielmehr eine grundlegende Reform des kaiserlichen Staats gewünscht und die Monarchie als ihre Beschützerin angesehen.
In den Revolutionen und im Nationalitätenproblem spiegelte sich Judson zufolge beides, "die Schwierigkeiten des Habsburgerreiches und der Mangel an einer Alternative zu ihm". Die sehr komplexe ethnische Landkarte habe einen großen Teil der Bevölkerung die gemeinsamen Institutionen akzeptieren lassen. Anstrengungen, ein dauerhaft überlebensfähiges österreichisches Reich zu schaffen, scheiterten – so der Autor – an Kriegsniederlagen gegen Italien und Preußen, am Ausschluss Österreichs aus der föderativen Organisation des 1815 geschaffenen Deutschen Bundes (als Nachfolger des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation) sowie an der endemischen Feindschaft zu Ungarn.
Folgenreiches Attentat
Judson wird nicht müde, darauf hinzuweisen, dass die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie seit 1867 die Einheit des Staats zwar schwächte, die Administration in der Wiener Hofburg aber trotz bestehender nationaler Probleme versuchte, die zunehmenden politischen, sozialen und kulturellen Differenzen innerhalb seines Vielvölkerstaats zu überwinden. Am Ende hätten dann ein immer stärker aufkeimender Nationalismus und virulenter Panslawismus die Lunte an das Pulverfass auf dem Balkan gelegt. Der tödliche Anschlag auf Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau schließlich, Ende Juni 1914 in Sarajewo, löste dem amerikanischen Historiker George F. Kennan zufolge "die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" aus.
Judsons fakten- und kenntnisreiche Darstellung der Habsburgermonarchie zwischen 1740 und 1918 ist eindrucksvoll, aber auch problematisch. Es sind vor allem seine provokanten Thesen und die insgesamt allzu positive Bewertung der Habsburgermonarchie, die in Wissenschaftlerkreisen auf Kritik stoßen werden. Nicht zu Unrecht. Denn wer den aufgeklärten Absolutismus Maria Theresias als Rechtsstaat bezeichnet und die Ära Metternich nicht als totalitäre Despotie verstehen will, darf sich über akademischen Gegenwind nicht wundern. Den wissenschaftlichen Diskurs wird Judsons kühne Darstellung dennoch bereichern.
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