Zur Kulturgeschichte eines Körperteils
Für den Ritter Götz von Berlichingen muss es schwierig gewesen sein, die Verwundung seiner rechten Hand im Kampf zu kompensieren. Fortan trug er eine eiserne Prothese. Doch obwohl er auch später noch in viele Auseinandersetzungen verwickelt war, starb er erst 1562, mit über 80 Jahren. Offenbar war es ihm dennoch gelungen, sein Leben selbstbestimmt zu führen – es »in die eigene Hand zu nehmen«. Johann Wolfgang von Goethe inspirierte das Leben des realen Götz von Berlichingen zu seinem berühmten Drama vom Ritter »mit der eisernen Hand«. Auch in seinen übrigen Werken hat er dem Körperteil einen großen Platz eingeräumt.
Kritik der heutigen Zeit
Der Germanist und Medienwissenschaftler Jochen Hörisch widmet sich der Rezeption der menschlichen Hand in der europäischen Kulturgeschichte. Er beginnt sein Buch zunächst mit einer Kritik der heutigen Zeit. Es sei eine Epoche der »Handvergessenheit«, da man digitale oder virtuelle Inhalte höher schätze als Produkte, die auf Handarbeit basieren. Internetkonzerne wie Google, Facebook oder Instagram würden nicht fassbare Güter anbieten und damit hohe Börsenwerte erzielen. Er kritisiert, dass diese »Kognitivierung der Ökonomie« zur Entdinglichung und Entfremdung führe.
In seinen Betrachtungen widmet sich Hörisch neben kürzeren Ausführungen über Künstler wie Albrecht Dürer oder Tizian, Philosophen wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Johann Gottfried Herder, Immanuel Kant, Helmuth Plessner oder Adam Smith sowie Schriftsteller wie Ephraim Gotthold Lessing, Thomas Mann, Rainer Maria Rilke oder Friedrich Schiller kenntnisreich vor allem den Werken von Johann Wolfgang Goethe. Dessen »Leiden des jungen Werthers«, in denen die Hauptfigur »Hand an sich legt« (also Suizid begeht), oder das Gedicht »Der Bräutigam«, in dem die Gemeinsamkeit eines Paares mit der Formulierung »Hand in Hand« beschrieben wird, prägten bekannte Redewendungen. Die eiserne Prothese der rechten Hand des Götz von Berlichingen interpretiert Hörisch als Sinnbild für die rechte Unterstützung durch einen Vertrauensmann, derer Götz wegen seiner Verletzung bedarf, um trotz allem »sein Leben in die eigene Hand zu nehmen«.
Zudem thematisiert der Autor viele weitere Redewendungen: etwa die auf die »Untersuchung über den Wohlstand der Nationen« des schottischen Philosophen und Nationalökonomen Adam Smith zurückgehende »unsichtbaren Hand« des Marktes oder die Vermutung, jemand habe angesichts einer glücklichen oder schicksalhaften Fügung »seine Hand im Spiel« gehabt. Ebenso fehlt nicht der Verweis auf die »Hand Gottes«, die der argentinische Fußballspieler Diego Armando Maradona 1986 für sein berüchtigtes Handspiel im Viertelfinale der Fußballweltmeisterschaft gegen England für sich reklamierte.
Dass Hörisch als Germanist einen Schwerpunkt auf die Literaturwissenschaft legt, ist nachvollziehbar und legitim. Dennoch erscheint das für eine im Untertitel des Buchs angekündigte »Kulturgeschichte« unausgewogen. Denn die Darstellung literarischer Inhalte geht zu Lasten philosophischer, künstlerischer aber auch naturwissenschaftlicher Aspekte.
Zudem muss man grundlegende Aussagen zur angeblichen »Handvergessenheit« der heutigen Zeit hinterfragen: Es ist sicher nicht zu leugnen, dass handwerkliche Berufe im Gegensatz zu akademischen lange an Prestige eingebüßt haben. Doch dürfte das nicht an einer Geringschätzung der Handarbeit gelegen haben, sondern an den erhofften – und oft enttäuschten – besseren Zukunftsperspektiven durch ein Studium. Wenn Hörisch kritisiert, das Prestige der Handschrift sei seit Erfindung der Schreibmaschine oder der heutigen Computertastaturen rückläufig, mutet diese Klage seltsam antiquiert an. Vielmehr gehören auch zum Tastenschreiben Übung und Fingerfertigkeit.
Sogar das Fußballspiel sieht Hörisch als Ausdruck der von ihm kritisierten »Handvergessenheit«. Der Körperteil werde darin negativ bewertet, da das Handspiel als Regelverstoß gelte. Auch wenn diese Aussage wohl nur augenzwinkernd gemeint ist, wirkt sie doch unglücklich. Nicht nur, dass der Torwart den Ball mit der Hand berühren darf, in anderen Sportarten wie Handball oder Basketball ist es genau andersherum. Hier kommt es auf das Spiel des Balls mit der Hand an, während der Fußkontakt als Regelverletzung gilt. Um die angebliche »Handvergessenheit« unserer Zeit zu untermauern, taugt das Fußballspiel genauso wenig wie jede andere Sportart.
Dennoch ist das Buch in seinem literaturwissenschaftlichen Fokus besonders auf Goethe sehr kenntnisreich geschrieben. Vor allem literaturhistorisch Interessierte sowie Goethe-Liebhaber dürften es mit Gewinn lesen.
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