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»heimgesperrt«: Versuchslabor Kinderheim

Die Autorin schildert, welch brutales Unrecht ihr selbst sowie unzähligen anderen Heimkindern in Deutschland widerfahren ist.
Schatten von einem Kind und einem Erwachsenen

»heimgesperrt – missbrauch, tabletten, menschenversuche: heimkinder im labor der pharmaindustrie« lautet der Titel des faktenbasierten Romans von Sylvia Wagner. Gefängnisgitter nebst Blutfleck auf dem Buchcover visualisieren dieses grauenhafte Verbrechen eindrucksvoll.

Zur Erinnerung: Die Pharmazeutin Sylvia Wagner deckte ab 2016 auf, dass Heimkinder in Deutschland von den 1960er bis in die 1980er Jahre hinein von der Pharmaindustrie systematisch für Arzneimittelversuche und experimentelle Therapien missbraucht worden waren. 2019 dokumentierte und belegte sie dies in ihrer Dissertation. Dass Kinder in den überwiegend staatlich und kirchlich (!) geführten Heimen körperliche und seelische Folter erlitten hatten und sexuell missbraucht worden waren, hatte »Der Spiegel« bereits 2003 öffentlich gemacht – und den Stein der Aufklärung ins Rollen gebracht. Sylvia Wagner setzte mit ihrer Dissertation ein weiteres Kapitel obendrauf – ein Meilenstein! Viele Heimkinder hatten von erzwungenen Medikamentengaben und schmerzhaften, offenbar unnötigen Eingriffen berichtet. Doch der Runde Tisch Heimerziehung (RTH), eine Arbeitsgruppe aus Politikern, Kirchen- und Heimvertretern, der den Heimkinderskandal wissenschaftlich aufarbeiten und nach Entschädigungsmöglichkeiten suchen sollte, ließ 2010 im Abschlussbericht verlauten, »keine konkreten Hinweise« auf illegale Arzneimittelversuche an Heimkindern gefunden zu haben. Nur eine einzige Versuchsreihe an Kindern hatte der RTH aufgespürt, durchgeführt 1966 mit dem beruhigend wirkenden Psychopharmakon Truxal. Sylvia Wagner konnte rund 100 solcher Studien an Kindern recherchieren, teilweise mit Medikamenten, die noch gar nicht auf dem Markt waren, oft publiziert in namhaften Fachzeitschriften jener Jahre.

Die Pharmazeutin hat sich nach Jahren wissenschaftlicher Veröffentlichungen nun ihr eigenes Leid und das anderer Heimkinder in einem faktenbasierten Roman von der Seele geschrieben, denn »die nüchterne Sprache einer wissenschaftlichen Arbeit transportiert nicht die Emotionen, nicht den Schmerz, nicht die Wut der Betroffenen und erreicht nur eine begrenzte Leserschaft«, begründet sie im Vorwort. Darum hat sie im Roman Einzelschicksale miteinander verwoben und Lebensgeschichten erzählt, die aufzeigen, welchen barbarischen Qualen rund 1,2 Millionen Heimkinder hier zu Lande schutzlos ausgeliefert waren: Kinder, die unehelich, also »verwahrlost geboren« wurden, »gefallene« beziehungsweise ledig schwangere Mädchen, pubertäre Jugendliche, die nach damaligen Moralvorstellungen als »verhaltensauffällig« oder gar »schwachsinnig« galten, sowie behinderte und psychisch kranke Kinder. Sie waren oft »Versuchskaninchen« für die Pharmaindustrie.

Das Buch ist ein Stück Wissenschaftsgeschichte, das die Leserinnen und Leser gegen Ende mitnimmt in die Pharmaforschung der letzten Jahrzehnte und sie hautnah miterleben lässt, wie einer der größten Medizinskandale der letzten Jahrzehnte Schritt für Schritt aufgeklärt wird. Mit ihrer Protagonistin Hannah zeichnet die Autorin ein Stück weit ihre eigene Geschichte nach. Wir begleiten das ehemalige Heimkind bei der Suche nach Mutter und Schwester, fahren mit ihr zu den Treffen ehemaliger Heimkinder, die ihr, der Pharmazeutin, von »Kotz- und Betonspritzen« und schmerzhaften Therapien erzählen und getrieben sind von der Frage: Was ist mit uns geschehen? Liebevoll unterstützt und klug begleitet von Lebensgefährte Hannes wagt Hannah schließlich die Konfrontation mit der dunklen Vergangenheit. Sie nimmt die Leserinnen und Leser mit zu ihren Recherchen in Archiven und lässt sie im Buch an ihren Gesprächen, Gedanken und wissenschaftlichen Analysen teilhaben. Das Buch lebt von gut geschriebenen Dialogen, die die Handlung voranbringen.

Dabei kann die Autorin ihren pharmazeutischen Background nicht verleugnen. Wir erfahren von den Polio-Impfstoffversuchen in Säuglingsheimen und von Heimkindern, denen sedierend wirkende Neuroleptika wie Chlorprothixen, Dipiperon oder Haloperidol sowie den Sexualtrieb dämpfende Mittel wie »Hängolin« verabreicht wurden. Sylvia Wagner lässt Hannah prägnant und leicht verständlich erklären, wie die getesteten Medikamente wirken und unter welchen Langzeitschäden Betroffene leiden, was Lumbalpunktionen, Pneumoenzephalografien und stereotaktische Hirnoperationen sind und warum diese experimentellen Therapien niemals ohne Einwilligung hätten vorgenommen werden dürfen. Hannah zitiert entlarvende Notizen aus Patientenakten und liest uns aus aufgespürten Gesprächsprotokollen vor, in denen ranghohe Vertreter aus Politik und Wissenschaft allen Ernstes über das Für und Wider von Impfstoffversuchen an Heimkindern diskutieren. Und sie recherchiert, dass es schon damals mit dem Nürnberger Kodex von 1947 und der Helsinki-Deklaration des Weltärztebundes von 1964 ethische Standards in der Medizin gab, die ganz klar und zweifellos wissentlich missachtet wurden.

Tatsachenbasiert und empathisch zugleich schreibt Sylvia Wagner, aber nicht anklagend oder Mitleid schürend. Das brutale Unrecht, das Heimkindern angetan wurde, spricht für sich und lässt die Leserinnen und Leser immer wieder fassungslos zurück. Fassungslos auch deshalb – und das hätte im Buch ruhig stärker thematisiert werden dürfen –, weil sich Bund, Länder und Kirchen bisher nicht in der Lage sehen, die Betroffenen angemessen zu entschädigen. Betroffene, die das Heim krank an Körper und Seele nach Jahren der Zwangsarbeit ohne Ausbildung und Rentenansprüche verlassen haben und heute nicht selten in Armut leben. Fassungslos macht auch, dass die an den Heimkinderversuchen seinerzeit beteiligten Pharmafirmen, die von diesen Versuchen finanziell profitierten, bis heute keine Entschädigungen zahlen müssen. Und beschämend bleibt, dass ehemalige Heimkinder zwar auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz Anspruch haben, sich dafür aber vor Gericht oft jahrelangen entwürdigenden und retraumatisierenden Gutachterkriegen aussetzen müssen. – Ein wichtiges Buch mit schwer erträglichen, aber leicht verständlichen Inhalten. Klare Leseempfehlung!

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