Der letzte Universalgelehrte
Hermann von Helmholtz war einer der herausragendsten Naturforscher des 19. Jahrhunderts. Als Mediziner, Physiologe, Mathematiker und Physiker erzielte er in allen Gebieten bedeutende Ergebnisse und wird daher mit Recht als der letzte Universalgelehrte bezeichnet.
Am bekanntesten dürfte der Energieerhaltungssatz sein, den er bereits im Alter von 26 Jahren formulierte. Allgemein bekannt ist auch die Erfindung des Augenspiegels, des ersten medizinischen Instruments, mit dem man in das Innere eines lebenden Organs schauen konnte. Die Messung der Reizleitungsgeschwindigkeit in Nervenfasern ist nur eine seiner Errungenschaften in der Psychophysik.
Helmholtz starb 1894 hoch geehrt in Berlin. Eine Biografie von Leo Königsberger erschien bereits acht Jahre später und blieb über 100 Jahre lang maßgeblich. Eine umfassende Würdigung war daher mehr als überfällig – und ein großer Verdienst David Cahans, der seine jahrzehntelangen Studien mit diesem 1000-seitigen, äußerst detailreichen Monumentalwerk komplettiert.
Cahan war Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Universität Nebraska-Lincoln und ist einer der führenden Helmholtz-Spezialisten. Er hat bereits mehrere Bücher und Abhandlungen über ihn verfasst, die auch als ergänzendes Material zur Biografie dienen.
Der Ausnahmewissenschaftler Helmoltz wurde zunächst Professor für Anatomie in Heidelberg, wo er sich anfangs vor allem der Sinnesphysiologie zuwandte. Doch nach und nach widmete er sich vermehrt der Hydro- und Elektrodynamik. Nach dem Tod seines Kollegen Gustav Magnus erhielt er dessen Professur für Physik in Berlin. So trug er auch in der Lehre dazu bei, die kommenden Physikergenerationen mit der Elektrodynamik vertraut zu machen. Zu seinen Doktoranden zählten etwa Heinrich Hertz, Wilhelm Wien, Albert Michelson und Max Planck. 1877 wurde er Rektor der Berliner Universität und zehn Jahre später erster Präsident der neu gegründeten Physikalisch-Technischen Reichsanstalt, die er bis zu seinem Tode leitete.
Helmholtz beherrschte selbstbewusst seine Forschungsgebiete. Solcher Stolz übertrug sich in Folge auch auf andere Naturwissenschaften (zuvor genossen vor allem die Geisteswissenschaften einen guten Ruf) und verhalf ihnen zu gesellschaftlicher Akzeptanz. Dennoch sah Helmholtz sich als Kulturträger und nicht als Politiker. Als Wissenschaftler, der auch großes Interesse für alle Arten der Kunst zeigte und über deren naturwissenschaftliche Grundlagen philosophierte, war er daher der Idealtypus des deutschen Gelehrten.
Für die vorliegende Gesamtdarstellung eruierte Cahan unzählige Quellen, Briefe und Dokumente. Wert gelegt wurde in hohem Maß auf die Beleuchtung des persönlichen Leben des Physikers. Als klassische Biografie konzipiert, verknüpft Cahan Helmholtz' private und gesellschaftliche Lebensumstände mit seinem wissenschaftlichen Wirken zu einem Gesamteindruck dieser großen Persönlichkeit.
Nicht nur nebenbei entsteht dadurch auch ein Bild der sich verändernden wissenschaftlichen Landschaft, also Institutionalisierung, Disziplinbildung und Spezialisierung, die kennzeichnend für das 19. und wegweisend für das 20. Jahrhundert waren.
Cahan wollte zeigen, wie die kulturellen und wissenschaftlichen Bedingungen Helmholtz prägten, er aber auch umgekehrt diese mitgestaltete. Das in Fülle zu beschreiben, ist selbst für ein großes Werk wie dieses keine leichte Aufgabe. So ist die Formulierung des Energieerhaltungssatzes keine Einzelleistung von Helmholtz, sondern eine Zusammenfassung von Ideen, die zu seiner Zeit weit verbreitet waren. Es war Helmholtz' systematische und erkenntnistheoretisch begründete Vorgehensweise, welche die experimentellen Befunde auf ein neues fundamentales Prinzip zurückzuführen vermochte. Die Geschichte des Energieerhaltungssatzes allein könnte ein ganzes Buch füllen, doch bei Cahan nimmt sie nur wenige Seiten ein.
Ein weiteres Manko betrifft den enormen Einfluss, den Helmholtz als Vorbild für die nachfolgenden Wissenschaftlergenerationen hatte. Diese Forscher, welche die moderne Physik begründeten, beschrieben ein Studium unter Helmholtz als prägende Erfahrung – als eine Schule, die sie zu ihren eigenen und strengsten Kritikern machte. Leider führt Cahan diesen Aspekt kaum aus.
Die Beispiele zeigen, dass es selbst ein fast 1000-seitiges Buch nicht schaffen kann, dem Giganten Helmholtz umfassend gerecht zu werden. Dennoch stellt es einen Meilenstein seiner Rezeption dar.
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