Sie wussten, was sie tun
Was brachte NS-Mediziner wie Josef Mengele (1911–1979), August Hirt (1898–1945) und Aribert Heim (1914–1992) dazu, ihre grausamen Menschenversuche durchzuführen? Haben diese Experimente der Medizin irgendwelche Erkenntnisse gebracht? Oder waren sie aus wissenschaftlicher Sicht ebenso unnütz, wie sie aus ethischer Sicht zu verabscheuen sind?
Der Mediziner Michael Cymes versucht, diese Fragen im vorliegenden Band zu beantworten. Er tut das aus persönlichen Motiven heraus: Seine beiden Großväter verloren in Auschwitz ihr Leben. Cymes hat umfangreiche Recherchen betrieben. Er fuhr in die Baracken des Konzentrationslagers, stöberte Zeugenaussagen von Überlebenden auf, inspizierte die Leichensammlung der Universität Straßburg. Detailliert studierte er auch die Dokumentation des Nürnberger Ärzteprozesses aus dem Jahr 1947. Dort saßen 23 Organisatoren von Medizinverbrechen auf der Anklagebank. 16 wurden verurteilt, sieben davon zum Tod.
Abschied vom Menschsein
Cymes fand allerdings kaum befriedigende Erklärungen. Möglicherweise haben einige der angeklagten Mediziner aus Minderwertigkeitsgefühlen heraus den Wunsch verspürt, sich im Sinne der Nationalsozialisten zu profilieren. Dies könnte etwa auf Carl Clauberg zutreffen, einen Mann von 1,54 Meter Körperhöhe, der sowohl aufgrund seiner Statur als auch wegen seines schwierigen Charakters soziale Probleme hatte. Clauberg wollte unfruchtbaren "Arierinnen" zum Nachwuchs verhelfen. Paradoxerweise meinte er, diesem Ziel näherzukommen, indem er Frauen, die in seinen Augen "rassisch minderwertig" waren, massenhaft sterilisierte.
Im Konzentrationslager Ravensbrück verletzten Herta Oberheuser und Karl Gebhardt vorsätzlich Häftlinge, infizierten deren Wunden mit Bakterien und testeten, ob die Behandlung mit Sulfonamiden zur Heilung führt. Für Oberheuser waren diese Versuche möglicherweise eine willkommene Chance, als Chirurgin Anerkennung zu erlangen. Frauen war das damals nur selten vergönnt.
Doch eine empfundene Minderwertigkeit gab mit Sicherheit nicht bei allen NS-Ärzten den Ausschlag zu ihrem Tun. Sigmund Rascher etwa lotete in unbeschreiblichen Experimenten aus, ab welchen Flughöhen man als Mensch keine Überlebenschance mehr hat; er war bereits vor Beginn des zweiten Weltkriegs erfolgreicher Chirurg und überzeugter Nationalsozialist gewesen. Ähnliches gilt für Josef Mengele, der seine sadistische Passion in der Zwillingsforschung fand. Auch die medizinische Karriere des Aribert Heim ("Dr. Tod"), der im Konzentrationslager Mauthausen zahlreiche verstümmelnde Operationen an Gesunden vornahm, hatte vielversprechend begonnen – eine Zeitlang hatte Heim sich sogar beim Roten Kreuz engagiert.
Die Beweggründe der Mediziner, ihrem hippokratischen Eid bewusst zuwiderzuhandeln, müssen sehr verschieden gewesen sein. Mit den Erkenntnissen, die aus ihren grausigen Versuchen hervorgingen, verhält es sich dagegen anders. Diese beziehen sich im Wesentlichen darauf, wie man Menschen effektiv umbringen kann.
Keine isolierten Täter
Anstatt Fragen zu beantworten, wirft das Buch eine ganze Reihe neuer Fragen auf. Mehrere Ärzte, die für Medizinverbrechen in den Konzentrationslagern verantwortlich waren, konnten sich nach dem Krieg zunächst der Strafverfolgung entziehen und bis in die Mitte der 1950er Jahre hinein unbehelligt in Deutschland praktizieren – etwa Herta Oberheuser und Carl Clauberg. Josef Mengele und Aribert Heim gelang die Flucht ins Ausland. Inwiefern deutsche Pharmafirmen hier ihre Hand im Spiel hatten, bleibt zu spekulieren. Die I.G. Farben war gegen Kriegsende zumindest soweit in die Experimente involviert, dass sie Testsubstanzen in die Konzentrationslager schickte, deren krebserregende Wirkung bekannt war.
Auch die Rolle der USA erscheint in zweifelhaftem Licht. Nach Kriegsende wurde in den Vereinigten Staaten die "Joint Intelligence Objectives Agency" gegründet, eine Einrichtung, deren Aufgabe darin bestand, fähige Forscher anzulocken. Naturwissenschaftler und KZ-Ärzte, die sich im Naziregime bewährt hatten, konnten so ihren "Ruhm" in Übersee noch mehren. Die wohl größte Irritation dürfte der Autor mit seinem Werk an der Universität Straßburg ausgelöst haben: Im dortigen anatomischen Institut hatte man bis dato Leichenteile von Juden aufbewahrt, die während der NS-Besatzung im nahen Konzentrationslager Natzweiler-Struthof ermordet worden waren. Dort hatte August Hirt gewütet und den Plan ersonnen, die Überreste eines Tages in einem "Museum der verschwundenen jüdischen Rasse" auszustellen.
"Hippokrates in der Hölle" zu lesen, ist keine Freude. Der Autor beschönigt oder verschleiert nichts. Er beschreibt menschliches Handeln in seinen entsetzlichsten Abgründen und lässt die Fragen im Raum stehen, die sich bei der Lektüre aufdrängen. Vielleicht ist das die einzig sinnvolle Weise, mit Dingen umzugehen, die so grauenhaft sind, dass es erklärende Antworten schlicht nicht gibt.
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