Evolution des urbanen Menschen
Eine Reise zu unseren Vorfahren, die vor gut 3,6 Millionen Jahren den aufrechten Gang einübten, führt uns in die Savanne Ostafrikas. Eine nicht enden wollende Graslandschaft, hier und da unterbrochen durch schattenspendende Bäume. Das Nahrungsangebot ist begrenzt und nahezu vollständig abhängig vom Wetter und dem Geschick der Jäger und Sammler, die zugespitzte Steine und Holzstücke als Werkzeuge verwenden. Zur Fortbewegung können die Vormenschen ausschließlich ihre eigenen Beine nutzen. Daher bleibt ihr Aktionsradius über die Dauer des Lebens begrenzt – zumal dieses, wenn überhaupt, lediglich rund 20 Jahre währt. Die sozialen Interaktionen beschränken sich auf wenige Dutzend Artgenossen, die sich sowohl hinsichtlich des äußeren Erscheinungsbilds als auch vom Lebensstil her stark ähneln.
Heute lebt mehr als die Hälfte der 7,5 Milliarden Menschen in einer Stadt, davon etliche Millionen in so genannten Megacities mit mehr als 10 Millionen Einwohnern. In klimatisierten Wohnsiedlungen, Bürokomplexen und Einkaufsmeilen begegnen wir üblicherweise mehreren hundert Menschen am Tag, die aus unterschiedlichen Teilen der Welt stammen. Individuellen Vorlieben und Prägungen entsprechend, wählen wir unsere Kleidung und unsere Nahrung aus einem breiten Angebot aus. An manchen Tagen stellt das Gießen der Büropflanze den intensivsten Kontakt zur Natur dar. Auf der Suche nach Abwechslung jetten wir am Wochenende hunderte Kilometer in eine andere Metropole, wo wir unseren Sinnesapparat mit weiteren Eindrücken aus Parks, Museen und Restaurants füttern.
Die Steinzeit steckt uns in den Knochen
So sehr sich die Lebensbedingungen von damals und heute unterscheiden, so stark sind wir – dank unserer Erbanlagen, die sich nur langsam verändern – immer noch von Merkmalen und Verhaltensweisen geprägt, die es unseren Vorfahren einst ermöglicht haben, in ihrer Umwelt zu überleben und sich fortzupflanzen. Wie wirkt sich unser evolutionäres Erbe auf die städtische Lebensweise aus? Worauf sollten Städteplaner und Architekten achten, um urbane Lebensräume zu schaffen, die tief verankerten menschlichen Bedürfnissen gerecht werden? Mit Fragen wie diesen beschäftigt sich die Zoologin und Anthropologin Elisabeth Oberzaucher im vorliegenden Werk. In 30 kurzen Kapiteln geht sie unter anderem darauf ein, nach welchen Kriterien wir einen Platz im Café oder in der U-Bahn aussuchen, welche Muster und Formen wir als ästhetisch ansprechend empfinden und inwiefern sich die Wege, die wir täglich zurücklegen, als Ausdruck unserer territorialen Ansprüche deuten lassen.
Die Lektüre ist mit einigen Aha-Effekten verbunden, zum Beispiel mit der Erkenntnis, dass individuelle Wohnbereiche im Freien unbedingt durch Markierungen wie Hecken oder unterschiedlichen Bodenbelag voneinander abgetrennt werden sollten, damit Menschen sie als attraktiv wahrnehmen und nutzen. Freiflächen von unklarer territorialer Zuordnung zu gebrauchen, stellt für viele Personen eine derart große kognitive Belastung dar, dass sie sich lieber in die eigenen vier Wände zurückziehen. Andere Beispiele und Zusammenhänge, die Oberzaucher erläutert, sind dagegen recht banal. Etwa der Hinweis darauf, dass die meisten Menschen sich besonders mit solchen Nachbarn wohlfühlen, die ähnliche ethnische Wurzeln haben wie sie selbst.
Für Städteplaner und Architekten
Wer eine umfassende Abhandlung darüber sucht, wie sich unsere Präferenzen und Verhaltensweisen entwickelt haben und warum viele von ihnen bis heute zum Tragen kommen, findet sicher geeignetere Bücher. Denn der evolutionsbiologische Hintergrund wird in "Homo urbanus" zwar angerissen, kommt aber verhältnismäßig kurz. Stattdessen konzentriert sich die Autorin auf Fallbeispiele mehr oder weniger erfolgreicher Wohnprojekte und formuliert konkrete Tipps für Städteplaner und Architekten. Die letzteren werden wohl am stärksten von der Lektüre des Werks profitieren, das teilweise sehr lexikalisch anmutet, aber auch ohne Vorwissen gut zu verstehen ist. Der Fettdruck von Schlüsselbegriffen, die zahlreichen farbigen Abbildungen und die kurzen Zusammenfassungen am Ende der einzelnen Kapitel verleihen dem übersichtlichen Band einen ansprechenden Rahmen.
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