Die Wissenschaft des Kuschelns
Berührungen begleiten uns unser Leben lang. Schon im Mutterleib nehmen Ungeborene taktile Reize wahr. Kinder lernen über Körperkontakt, sich selbst und ihre Umwelt wahrzunehmen. Auch im Jugend- und Erwachsenenalter erfüllen zwischenmenschliche Berührungen wichtige Funktionen: Sie helfen dabei, emotionale Bindungen aufzubauen, Stress zu reduzieren und sogar Schmerzen zu lindern.
Die Neurowissenschaftlerin Rebecca Böhme erforscht, wie Berührungen unser Leben und unsere Beziehungen prägen und welche Wirkung sie auf Schizophrenie-, Autismus- oder ADHS-Betroffene haben. In ihrem Buch »Human Touch« stellt sie anschaulich und leicht verständlich den aktuellen Kenntnisstand zu diesen Themen vor.
Streicheln im richtigen Tempo
Die Autorin hebt hervor, dass sanfte, streichelnde Berührungen eine ganz andere Qualität haben als sonstige taktile Sinnesreize. Sie werden über eigene Rezeptoren in der Haut wahrgenommen und über so genannte C-taktile Fasern ans Rückenmark übermittelt. Anders als die schnellen A-Fasern, die für den klassischen Tastsinn zuständig sind, vermitteln C-Fasern körperbezogene Wahrnehmungen wie Temperatur und Schmerz. Die Untergruppe der C-taktilen Fasern reagiert speziell auf Streicheleinheiten. Besonders stark antworten diese Fasern auf eine Streichelgeschwindigkeit von ein bis zehn Zentimetern pro Sekunde. Das ist genau die Geschwindigkeit, die Menschen intuitiv nutzen, wenn sie andere liebkosen.
In neun Kapiteln vermittelt die Autorin teils bekannte, teils neue Erkenntnisse zu zärtlichen Berührungen in verschiedenen Situationen und Lebensphasen. Einleitend stellt sie dar, wie wichtig Kuscheln, Streicheln und Umarmen für Babys und Kinder sind – nicht nur auf emotionaler, sondern auch auf physiologischer Ebene. So haben Neugeborene, die direkt nach der Geburt mit ihren Eltern kuscheln, noch Stunden später eine stabilere Körpertemperatur als Kinder, die zunächst ohne körperliche Nähe auskommen müssen.
Ein weiteres Kapitel befasst sich mit Berührungen im Alltag. Hier verdeutlicht Böhme anhand wissenschaftlicher Studien, welch enormen Einfluss kaum wahrgenommene, zufällige Berührungen auf unser Verhalten haben. Restaurantgäste etwa geben durchschnittlich mehr Trinkgeld, wenn der Kellner sie beiläufig berührt hat. Anders herum kann es Menschen die Lust am Shopping verderben, wenn andere Kunden sie streifen. Wie kann es sein, dass die gleiche Berührung mal positiv und mal negativ empfunden wird? Diese Frage greift Böhme in mehreren Kapiteln auf und erörtert sie sowohl anhand alltäglicher Beispiele als auch neuer neurophysiologischer Erkenntnisse, wonach womöglich bereits auf der Ebene des Rückenmarks moduliert wird, wie wir Berührungen in verschiedenen Situationen wahrnehmen.
Der Schwerpunkt des Buchs liegt klar auf Berührungen, die als angenehm empfunden werden und positive Effekte auslösen – sei es das Streicheln eines Haustiers, das Umarmen von Freunden oder die intime körperliche Beziehung zu einem Liebespartner. Als Aufhänger jedes Kapitels dient ein personalisiertes Beispiel, das Identifikationsmöglichkeiten liefert und die wissenschaftlichen Erkenntnisse konkretisiert.
Das Lesen regt dazu an, Berührungen bewusster wahrzunehmen und häufiger in den Alltag einzubauen. Wer allerdings ein seichtes »Gute-Laune-Kuschel-Buch« erwartet, wird bereits auf den ersten Seiten eines Besseren belehrt. Denn um die Bedeutung von Berührungen zu verdeutlichen, zieht Böhme unter anderem Studien heran, bei denen umstrittene Tierversuche mit »depressiven« Mäusen oder isoliert gehaltenen Affenbabys erfolgten. Doch um sich einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zu verschaffen und zu begreifen, wie wichtig sanfter Körperkontakt ist, eignet sich das Buch sehr gut.
Alle Quellen im Literaturverzeichnis sind mit kurzen Schlagworten zu ihrem Inhalt versehen, so dass es leichtfällt, die im Hauptteil angesprochenen Studien wiederzufinden und sich bei Interesse weiter zu informieren. Der Band liefert somit wertvolle Anregungen für Personen, die beruflich viel mit Berührungen zu tun haben – etwa im Bereich Pflege oder Therapie. Zum anderen gibt er gute Argumente an die Hand, mehr Wert auf Zärtlichkeit zu legen – in Paarbeziehungen, gegenüber den eigenen Kindern und auch im Freundeskreis.
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