»Ich muss darüber sprechen«: Zwischen Privileg und Stigma
»Ich habe abgetrieben, und es geht mir gut, danke.« Aus Sicht von Pauline Harmange ist dieser Satz wichtig und zugleich verheerend. Wichtig, weil er zeigt: Eine Abtreibung ist kein Stigma, das eine Person definiert. Verheerend, weil er schmerzhaften Gefühlen nach einer Abtreibung keinen Raum gibt.
Als Pauline Harmange 2018 trotz Verhütung ungewollt schwanger wird, ist sie 23 Jahre alt, verheiratet und gerade mit dem Studium fertig. Gemeinsam mit ihrem Mann lebt sie in einer winzigen Wohnung im französischen Lille. Monat für Monat sorgt sie sich, wie sie die Miete bezahlen soll. Obwohl sie eines Tages Mutter werden will, ist ihr klar: Unter diesen Umständen würde sie einem Kind niemals das Leben bieten können, das sie sich für es wünscht.
In technischer Hinsicht, so schreibt sie, lief ihre Abtreibung problemlos. Verständnisvolles medizinisches Personal verschrieb ihr zwei Tabletten, die ihr einen sicheren Schwangerschaftsabbruch zu Hause ermöglichten. Das waren ganz andere Bedingungen als in vielen Teilen der Welt, wo Frauen ungewollte Schwangerschaften nur illegal und unter großen Gesundheitsrisiken abbrechen können. Ihr eigenes Privileg fühlte sich für die Französin wie eine Verpflichtung an: Sie glaubte, dass es ihr nach der Abtreibung gut gehen müsse. Dass dem nicht so war, kam ihr vor wie ein Verrat – obgleich sie froh darüber war, die Möglichkeit zur Abtreibung gehabt und genutzt zu haben.
Mit ihrem Buch schafft sie einen Raum für Frauen in ähnlichen Situationen. Zwar befürchtete sie, Abtreibungsgegner könnten ihre nicht ausschließlich positiven Erfahrungen instrumentalisieren. Doch der Wunsch nach einer differenzierten Betrachtung widerstreitender Emotionen und gesellschaftlicher Zwänge überwog. Persönlich, intim und zugleich hochpolitisch beschreibt Pauline Harmange, was der Schwangerschaftsabbruch für sie bedeutet hat. Obwohl sie ihre Entscheidung nie bereute, litt sie lange unter ihr. »Einer wie mir passiert so etwas nicht« dachte sie – doch dann ist es passiert und hat ihr Selbstbild nachhaltig erschüttert.
Anhand von Beispielen aus Literatur, Filmen und Serien, Erzählungen aus ihrer Kindheit sowie Aussagen von Politikern wie dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron untersucht die Autorin, wodurch ihr Bild von Weiblichkeit, Schwangerschaft und Abtreibung geprägt wurde. Dabei geht sie auch auf rechtliche Rahmenbedingungen in Frankreich und anderen Ländern der Welt ein. Bezüge zu Deutschland, die in der französischen Originalausgabe fehlten, wurden in Form von redaktionellen Anmerkungen ergänzt.
Im letzten Teil des Buches beschreibt Pauline Harmange, was ihre »Heilung« ermöglicht hat. Neben Zeit und Liebe waren das vor allem Worte: Gespräche mit anderen Frauen sowie das Schreiben ihres Buchs. Damit es anderen Frauen nach einer Abtreibung besser gehen kann, sei es wichtig, das Schweigen zu brechen und mehr zu sagen als »Danke, mir geht es gut«. Mit ihrem Buch geht die Autorin mit gutem Beispiel voran. Lesenswert ist es für Menschen, die selbst einen Schwangerschaftsabbruch vor sich oder hinter sich haben und alle, die sich offen mit diesem gesellschaftsrelevanten Tabuthema auseinandersetzen möchten.
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