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»Ideologiemaschinen«: Wo Cancel Culture Institutionen aushöhlt

Wenn Ideologie und Social Media zusammenwirken, werden Institutionen dysfunktional und unfrei. Harry Lehmann benennt die Folgen digital verstärkten Gruppenzwangs.
Viele Hände mit Smartphones

Der Überfall der Hamas auf Israel hat den Krieg in Gaza entfacht und gleichzeitig einen weltweiten Propagandasturm entfesselt. Die über die sozialen Medien verbreiteten Bilder zeigen ihre Macht vielerorts, exemplarisch, etwa in den USA, in London oder Berlin – insbesondere an den dortigen Universitäten. Diese gerieten so unter den Druck des medialen Kampfes, dass Protestcamps sie sogar zeitweise daran hinderten, ihre eigentlichen Aufgaben zu erfüllen. Sie mutierten zu »Ideologiemaschinen«.

In »Ideologiemaschinen« verwandeln sich Institutionen, so der Philosoph Harry Lehmann, »die nicht länger an ihrer Funktion orientiert sind, sondern anstelle von Kunst, Wissenschaft oder Bildung beginnen, Ideologie zu produzieren«. Das damit verbundene Label »Cancel Culture« sei nur ein Oberflächenphänomen, der Ausdruck eines ebenso gravierenden wie grundlegenden Problems: Institutionen der liberalen Demokratien verlieren infolge der Medienrevolution »die Fähigkeit, eine Grenze zwischen politischer und nichtpolitischer Kommunikation zu ziehen, was zu erheblichen Dysfunktionalitäten führt«.

Bei der Analyse dieser Entwicklung greift der Autor den von Michael Freeden neutral definierten Ideologiebegriff auf: Ideologie ist ihm zufolge ein Sprachspiel aus mehrdeutigen Begriffen wie »Demokratie«, »Freiheit«, »Gleichheit«, »Gerechtigkeit«, »Diversität« et cetera, die je nach Konstellation unterschiedlich stark betont werden. An ihrer jeweiligen Gewichtung erkennt man politische Präferenzen und Parteiprogramme. Während in analogen Parlamentsdebatten in der Regel noch die »zivilisierende Wirkung« der persönlichen Begegnung einsetzt, fehlt diese im virtuellen Raum.

Für Lehmann sind Ideologien nicht nur Sprachspiele, sondern zugleich Machtinstrumente. Ihre Macht zeige sich in Sanktionen, die Betroffene im Berufsleben erleiden, in Disziplinarverfahren, Verwarnungen, Versetzungen oder Auftrittsverboten. Ihr Ziel sei es, ein gewünschtes Sprachverhalten durchzusetzen. Der Autor erklärt die Wirkung einer solchen Kommunikation aus der Psychologie der Gruppenpolarisierung. In der Gruppe entfalte sich die Dynamik eines Ideologisierungsprozesses, der in Diskussionen ihre Mitglieder zwinge, sich auf die Seite des am stärksten betonten Wertes zu schlagen. Moderate Stimmen verlören an Kraft, weil der Widerspruch zur Gruppenmehrheit einen »Reputationsschaden« verursache, den man aus Angst vor Ausgrenzung lieber vermeide. Diese inneren Machtmechanismen der Gruppenpolarisierung führten dazu, dass die jeweilige Ideologie unbestreitbar werde. Es entstehe ein apodiktischer Kommunikationsstil: Widerspruch werde nicht geduldet. Zugleich immunisiere sich die Gruppe so nach außen gegen öffentliche Kritik.

Wenn das Private dem Politischen geopfert wird

Der Autor illustriert diesen Prozess an einem »komischen Beispiel« aus der Theaterwelt. Ein Ensemblemitglied musste dem Gruppendruck nachgeben, einen Post auf seinem privaten Facebook-Account löschen und sich sogar für diesen entschuldigen, weil er nicht zur Ensemblemeinung passte. »Was sich in einer Kneipe problemlos sagen lässt, löst am virtuellen Stammtisch Kommunikationskaskaden aus.« Die digitale Kommunikation und der befürchtete Shitstorm zwängen den Schauspieler zu der Haltung, die von der Mehrheit des Ensembles eingenommen werde. Die Komik bestehe dann darin, dass gerade das Theater ein Ort für Ironie, Blödsinn und freies Spiel sei, also einen genuinen Raum dafür biete, Normen zu hinterfragen. Ähnliches geschehe in Universitäten, Behörden und anderen Institutionen. Die Ideologie werde unbestreitbar, das Private dem Politischen geopfert.

Mit Hilfe von acht Erklärungsmodellen erläutert Lehmann »Cancel Culture«, sie argumentieren etwa philosophisch, psychologisch oder rhetorisch. Seine Beispiele und Theorien stammen aus den USA und sind daher nur bedingt auf hiesige Verhältnisse übertragbar. Gerade am juristischen Modell zeige sich aber der große Unterschied zwischen der »Anglosphäre und der Eurosphäre«. Während es in den USA mit dem weniger kohärenten Rechtssystem vor Gericht zu einem Wettkampf von Anwälten vor einer Laienjury komme, seien Berufsrichter in der Eurosphäre gehalten, Indizien, Zeugenaussagen und Argumente anhand von gesetzlich verankertem Recht zu prüfen. Demnach sei das »Cancel-Culture-Syndrom in Europa weniger aggressiv«.

Der Autor plädiert für den Einbau von Ideologie- und Resonanzunterbrechern, um die Institutionen systematisch zu schützen. Dazu gehören etwa die Authentifizierung von Nutzern im Netz, die Verankerung von »Redefreiheit« in Leitbildern und ihre Verteidigung durch die jeweilige Institution. Als Vorbild dient ihm die University of Chicago; auch die University of Cambridge (ähnlich auch Netflix) gebe der Toleranz den Vorzug vor dem Respekt für andere Meinungen. Toleranz heißt nicht, dass man die Meinung anderer gut finden muss, sondern nur, dass man sie erträgt beziehungsweise nicht gewaltsam unterdrückt, argumentiert Lehmann zu Recht.

Lehmann warnt: In der so genannten westlichen Welt bestehe die Gefahr, dass im virtuellen Raum ein unerbittlicher Kampf um die Kontrolle von Gedanken und Sprachen entbrenne. Gegen diesen müssten sich liberale Demokratien systematisch anders schützen als gegen Bedrohungen aus der früher bestimmenden analogen Medienwelt. Ob das mit seinen Vorschlägen gelingt, ist alles andere als sicher. Dem Philosophen ist jedenfalls ein sehr verständlicher, leicht lesbarer und gut durchdachter Essay gelungen, dem man viele Leser wünscht – gerade auch in den institutionellen Entscheidungsgremien.

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