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Geistige Homöostase

Der Neurowissenschaftler Antonio Damasio hält Affekte für die Basis aller Kultur.

Der US-amerikanische Hirnforscher Antonio Damasio versucht sich an einer Grundlegung der menschlichen Kultur ausgehend von einer Theorie der Gefühle. Wie schon in seinen Erfolgsbüchern "Descartes' Irrtum" (im Original 1994 erschienen) und "Ich fühle, also bin ich" (1999) betont der inzwischen 74-Jährige die oft unterschätzte Bedeutung der Affekte: Sprache, Denken und Moral seien eng mit körperlichen Vorgängen und emotionalen Bewertungen verknüpft. Diese liefern sozusagen den Treibstoff für jede Vernunft und Tradition. Anders als in den 1990er Jahren ist diese These inzwischen allerdings nicht mehr neu, sondern fast schon Allgemeingut geworden.

Damasio holt weit aus. Die Textmasse seines Werks samt stattlichem Anmerkungsapparat hätte bei etwas leserfreundlicherem Layout leicht 400 Seiten füllen können. Kleiner Tipp für Eilige: Das Schlusskapitel "Die seltsame Reihenfolge der Dinge" – so auch der englische Originaltitel des Buchs ("The Strange Order of Things") – enthält eine Kurzfassung des Inhalts.

Damasios Stil ist streckenweise sehr abstrakt. Statt seine Thesen mit konkreten Beispielen oder auch mal einer Erzählpassage zu erläutern, beschreibt der Autor eine akademisch anmutende Kulturtheorie. So führt er gleich zu Beginn des Buchs aus: "Gefühle sind der mentale Ausdruck von Homöostase, und Homöostase, die unter der Decke der Gefühle aktiv wird, ist der Faden, der, was die Funktion angeht, die frühen Lebensformen mit der außergewöhnlichen Partnerschaft von Körper und Nervensystem verbindet." Das könnte man auch einfacher ausdrücken.

Streben nach Selbsterhaltung

Homöostase wird gemeinhin als "Gleichgewicht" übersetzt und meint in der Biologie meist die fein austarierte Balance des inneren Milieus des Organismus und seines Stoffwechsels mit der Umwelt. Damasio erweitert diesen Begriff und versteht darunter das Streben alles Lebendigen nach Selbsterhaltung. Homöostase heißt für ihn das Prinzip, das uns Angenehmes suchen und Schmerz vermeiden lässt. Gefühle dienen dabei als Wegweiser und prägen soziale Normen, Gesetze und Umgangsformen bis hin zu den ästhetischen Prinzipien der Kunst. "Gefühle waren als Stellvertreter der Homöostase die Katalysatoren für die Reaktionen, mit denen die Kultur des Menschen ihren Anfang nahm."

Ist dieser Ansatz biologistisch? Damasio betont immer wieder, dass soziologische, historische, philosophische und literarische Perspektiven ebenso viel zur Erklärung menschlicher Kultur beitragen wie die Naturwissenschaften. Auch unterstellt er nicht, dass Kulturleistungen biologisch erklärbar oder durch natürliche Selektion entstanden seien. Vielmehr interpretiert er, gerade umgekehrt, biologische Phänomene mit Begriffen der Kultur. So deutet Damasio den Zusammenschluss von Bakterien zu den ersten Eukaryonten (komplexen Zellen mit Kernen und Organellen) bereits als Frühform der Kooperation. Und die Staatenbildung sozialer Insekten sowie die Leistungen "liebenswürdiger Tintenfische" gelten ihm als Keimzellen von Bewusstsein. "Kooperative Strategien mussten nicht auf einen weisen, reifen Geist warten, bevor sie auftauchen konnten. Solche Strategien sind möglicherweise so alt wie das Leben selbst."

Hier zeigt sich der beschränkte Blickwinkel des Naturforschers: Denn Konzepte wie Kooperation, Subjektivität oder Moral sind noch viel mehr als nur Organisationsformen unserer Gefühle. Man mag sie als "homöostatische Regulation" begreifen, dennoch bleibt ein himmelweiter Unterschied zwischen der Moral von Einzellern und menschlicher Fürsorge bestehen. Affektive Prozesse sind dabei sicher wichtig, wie Damasio eindrucksvoll darlegt: Sie lenken unser gemeinschaftliches Handeln in vielen Bereichen des Lebens. Dass Gefühle den elaborierten Formen des Denkens und der Rationalität nachgeordnet seien – diese vermeintliche Lehrbuchthese, die der Autor vom Sockel stoßen will, wird in den meisten damit befassten Wissenschaften aber schon längst nicht mehr ernsthaft vertreten.

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