Gewaltiges Kulturerbe, neu beleuchtet
Das Kolosseum in Rom, einem breiteren Publikum aus Sandalenfilmen wie "Quo Vadis" oder "Gladiator" bekannt, diente jahrhundertelang als monumentale Showbühne. Hier wurden Massenspektakel wie Gladiatorenkämpfe, Tierhatzen und nachgestellte Seeschlachten aufgeführt – zur Erbauung einer hedonistischen Bevölkerung. Eine antike Unterhaltungsindustrie, für die der römische Satiriker Juvenal um 100 n. Chr. die treffende Formel "panem et circenses" (Brot und Spiele) fand.
Bislang gingen Forscher davon aus, dass das offiziell als "Amphiteathrum Flavium" bekannte Bauwerk – mit 527 Meter Umfang das größte der Antike – unter dem ersten Kaiser des flavischen Kaiserhauses, Vespasian (69-79 n. Chr.), errichtet wurde. Und zwar auf jenem Areal, wo laut dem römischen Historiker Sueton zuvor Kaiser Nero eine ausgedehnte Landschaftsvilla hatte errichten lassen, die "Domus Aurea" samt künstlichem See, und wo auch Neros Kolossalstatue stand, die dem "Amphiteathrum Flavium" seit dem Mittelalter den Namen gab.
Neubau oder Modernisierung?
Dieser herkömmlichen Ansicht gehen Klaus Stefan Freyberger und Christian Zitzl im vorliegenden Buch nach. Sie interpretieren den archäologischen Befund neu und gehen der antiken literarischen Überlieferung auf den Grund. Freyberger ist klassischer Archäologe und vormaliger wissenschaftlicher Direktor am Deutschen Archäologischen Institut in Rom, Zitzl klassischer Philologe und Schulleiter an einem Gymnasium. Ihr Fazit: Die flavische Dynastie habe das Kolosseum nicht – wie bei Sueton berichtet – "aus dem Nichts heraus" errichtet, sondern lediglich ein bereits bestehendes Vorgängerbauwerk aus republikanischer Zeit erneuert.
Zu Beginn des Buchs widmen sich die Autoren der Bau- und Nutzungsgeschichte des Kolosseums, das mit 50 000 Sitzplätzen mehr Zuschauer als heutige Fußballstadien fasste. Dabei schildern sie anschaulich den architektonischen Aufbau des Bauwerks, das vier Geschosse besaß, 49 Meter hoch war und dem ein spezieller Gussbeton (opus caementitium) die nötige Stabilität verlieh. Freyberger und Zitzl beschreiben das Innenleben der Anlage sowie deren technische Einrichtungen, wobei sie unter anderem ein System von Aufzügen erläutern, mit dem Tiere aus dem Untergeschoss in die Arena gebracht wurden. Auch gehen sie auf Vorrichtungen ein, mit denen sich die aufwändigen Bühnendekorationen bewegen und das gesamte Oval per Sonnensegel abdecken ließen.
Das Amphitheater vor dem Amphitheater
Im anschließenden Kapitel behandeln die Autoren der Entstehungsgeschichte des monumentalen Bauwerks, analysieren Grabungsbefunde und deuten diese neu. Dabei verweisen sie auf jüngere Ausgrabungen innerhalb des Kolosseums, bei denen Baureste zum Vorschein kamen, die in republikanische Zeit datieren – also rund 100 Jahre bevor Kaiser Vespasian in Rom regierte. Für die Autoren ein Indiz dafür, dass das vermeintlich flavische Kolosseum einen älteren Vorgängerbau hatte. Dafür sprechen ihrer Ansicht nach auch stilistische und bautechnische Übereinstimmungen mit anderen Amphitheatern aus dieser Zeit. Vergleicht man etwa das 14 v. Chr. erbaute Marcellus-Theater in Rom mit den ersten drei Geschossen des Kolosseums, erkennt man viele Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Verwendung des Steinmaterials, der Gliederung der Fassade, der Mauertechnik und der Bearbeitung der Steinblöcke. Daraus, folgern die Autoren, sei abzuleiten, "dass sich bereits in republikanischer Zeit ein Amphitheater aus Stein an der Stelle des Kolosseums befand, das später in den flavischen Bau integriert wurde".
Und der trockengelegte See im Bereich der Domus Aurea, auf dessen Gelände das Kolosseum errichtet worden sein soll? Auch hier haben die Autoren eine Erklärung parat: Dieser sei ursprünglich die Arena des alten Amphitheaters gewesen, in der gestellte Seeschlachten stattfanden, bevor Nero das Amphitheater samt Gewässer dem Park seiner Domus Aurea einverleibte. "Die geflutete Arena war buchstäblich ein künstlicher See".
So spektakulär diese Neuinterpretation auch sein mag, ist die Beweisführung der Autoren nicht in allen Punkten stichhaltig und zudem für den interessierten Laien schwer nachvollziehbar. Dies gilt besonders für die philologische Auslegung der literarischen Quellen, die mitunter etwas konstruiert wirkt. Ein Buch mit Stärken und Schwächen, aber einem interessanten Interpretationsansatz, der neue Denkhorizonte eröffnet.
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