Evolution der Evolution
Gerhard Vollmer ist promovierter Physiker, Philosoph und Mitbegründer der evolutionären Erkenntnistheorie. Er hat ein umfangreiches Sammelwerk geschaffen und darin 58 Disziplinen behandelt, die allesamt durch den Evolutionsgedanken beeinflusst worden sind. In diesem Buch nimmt er seine Leser mit auf eine ausgedehnte Reise durch solche Fachrichtungen: von Anthropologie über Didaktik, Finanztheorie, Psychologie und Soziologie bis hin zur Theologie.
Aufgeteilt ist das Werk in vier Abschnitte. Der erste "Über Evolution" handelt von der Evolutionstheorie im Allgemeinen, der zweite "Darwin in den Wissenschaften" vom berühmten Naturforscher und dem Evolutionsgedanken in den einzelnen wissenschaftlichen Sparten. Besonderen Raum räumt Vollmer der Philosophie ein, indem er ihr die beiden letzten Teile "Darwin und die Philosophie" sowie "Darwin in der Philosophie" widmet. Sie befassen sich beispielsweise damit, welche Beziehung Darwin zu dieser Wissenschaft hatte, und gehen auf die Teilgebiete der evolutionären Philosophie, evolutionären Metaphysik oder evolutionären Ethik sowie auf deren Verknüpfungen mit dem Evolutionsgedanken ein.
Überraschende Querverbindungen
Vollmers Buch versteht sich mehr als Nachschlagewerk denn als durchgehend zu lesende Lektüre. Es gibt dem Leser die Freiheit, die für ihn relevanten Teilkapitel herauszusuchen. Diese stellen in sich geschlossene Einheiten dar. Dennoch schafft Vollmer mit ihnen intellektuelle Bausteine, welche sich in einen gemeinsamen Kontext einfügen und auf erfrischende Weise Verbindungen zwischen einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen herausarbeiten, um dem Leser einen anregenden Blick über den Tellerrand zu gewähren.
Es ist faszinierend zu lesen, wie der Evolutionsgedanke besonders in den nicht naturwissenschaftlich geprägten Disziplinen Einzug gehalten hat. So widmet der Autor ein Teilkapitel der evolutionären Politologie, die unter anderem der Frage nachgeht, nach welchen Mechanismen der Aufbau eines Staats oder einer Gesellschaft funktioniert. Zum einen lassen sich diese Mechanismen anhand empirischer Methoden der Evolutionsbiologie erforschen. Zum anderen ist es möglich, Analogien zu Genetik und Vererbung herzustellen, die beispielsweise zu erklären vermögen, wie eine Gesellschaft wachsen kann.
Ein weiterer Abschnitt beschäftigt sich mit der evolutionären Psychiatrie. Hier stellt Vollmer die These auf, wir seien evolutionär (noch) nicht an die globalisierte Welt angepasst. Dem Psychiater John Price zufolge entwickelt der "Verlierer" eines Kampfes, sei dieser physischer oder sozialer Art, depressive Symptome. In Gemeinschaften vor der Globalisierung gab es laut Price eine klare Hierarchie mit einer fest zugeschriebenen gesellschaftlichen Rolle für jedes Individuum. In der globalisierten Welt dagegen konkurrierten die Individuen viel stärker miteinander, die Zahl der Verlierer steige und somit auch die Zahl der Depressiven. Dies erklärt Vollmer zufolge eindrucksvoll, warum in den zurückliegenden Jahrzehnten Depressionen immer häufiger geworden sind, Schizophrenien jedoch nicht. Psychische Störungen ließen sich somit als "Extremvarianten evolutionär entstandener Anpassungen" verstehen.
Entwicklungsschritt und Pinselstrich
Interessant auch das Teilkapitel über evolutionäre Kunst, einen Ansatz der bildenden Kunst, der Mitte der 1990er Jahre entstand und von dem Künstler und Informatiker Günter Bachelier geprägt wurde. Die evolutionäre Kunst behandelt ihr jeweiliges Objekt, etwa ein Porträt, als "Ausgangspunkt für einen evolutionären Prozess" und variiert dieses in einzelnen (Mutations- und Rekombinations-)Schritten immer weiter. Den künstlerischen Schaffensprozess bestimmen somit evolutionäre Prozesse wie Variation und Selektion.
Diese beiden Prozesse sind es auch, die Vollmer auf andere naturwissenschaftsferne Disziplinen anwendet, beispielsweise Sprachwissenschaft, Pädagogik und Musikwissenschaft. Seine Leser lässt er mit der Erkenntnis zurück, dass die Gesetze der Evolution umfassend anwendbar sind – nicht nur in der Biologie.
"Im Lichte der Evolution" vermittelt einen Überblick über verschiedene natur- und geisteswissenschaftliche Disziplinen und ermöglicht es, Evolution einmal aus ganz ungewohnter Perspektive zu betrachten – Querlesen ausdrücklich erwünscht.
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