Notsender und Whiskey im Gepäck
Ist es menschliche Neugier, wissen zu wollen, was große Entdecker und Entdeckerinnen in ihrem Reisegepäck hatten? Ed Stafford enthüllt, was die Abenteurer so mitnahmen, wenn sie zum Südpol, einmal um die ganze Welt, auf den Himalaja oder durch Wüsten reisten. Es überrascht ein wenig, dabei auch Champagner, Whiskey, Schokolade, Rouge, Schreibpapier, einen Siegelring oder Kokosnüsse zu finden. Warum nahmen sie gerade diese Dinge mit? Denn viel Platz hatten sie meist nicht. Manchmal entschieden aber gerade diese Gegenstände über Erfolg oder Scheitern einer Mission.
In 76 Tagen um die Welt
Der Champagner: Die Journalistin Nelly Bly hatte das edle Getränk in ihrer Handtasche. Sie wollte 1889 in weniger als 80 Tagen einmal um die ganze Welt reisen – und damit schneller sein als der fiktive Held von Jules Verne im gleichnamigen Roman. Sie leistete sich sogar einen Abstecher, um Verne in Amiens zu besuchen. Der versicherte ihr zwar, sein Applaus sei ihr sicher, aber er bezweifelte doch, dass sie es schaffen könne. Ein Grund für den späteren Erfolg war nicht nur der Champagner, sondern auch, bloß das Wenige mitzunehmen, das sie genau in eine einzige geräumige Handtasche stopfen konnte. Ein größeres Gepäckstück hätte sie beim Umsteigen oder beim Zoll behindert. Nur ihr Seidenmantel passte nicht mehr hinein, den sie daher über dem Arm trug. Der Champagner kam erst gegen Ende der Reise in ihr Gepäck. Den trank sie nicht selbst, sondern verschenkte ihn, damit ihr Zug beim Endspurt die Vorfahrt erhielt. Als sie nach 76 Tagen wieder an ihrem Ausgangspunkt New Jersey ankam, jubelten ihr tausende Fans zu.
Mit so wenig Gepäck reiste jedoch kaum jemand. So fasst es die direkte Übersetzung des englischen Titels besser: »Ausgepackt. Was die großen Entdecker in das Unbekannte mitnahmen.« Denn nicht immer waren die Reisenden mit einem Rucksack ausgestattet, wenn sie sich mit Schlittenhunden, einem Chevrolet, einem Kajak, Flugzeug oder mit Kamelen fortbewegten.
Der Blick ins Gepäck fördert aber nicht nur Sachen zu Tage, die auf den ersten Blick verwundern, sondern offenbaren manchmal auch den Charakter der Unternehmung. Während Scott auf seine Reise zum Südpol einen Theodolit mitnahm, um die exakte Route zu vermessen, entschied sich Amundsen für einen Sextanten, was eine präzise Ortsbestimmung erschwerte. Schon hier zeigt sich: Scott wollte wissenschaftliche Präzision und dabei Forschungsdaten erheben, Amundsen hingegen ein Wettrennen gewinnen. Dabei wäre Letzterem etwas mehr Genauigkeit zugutegekommen: Als er ganz in der Nähe des Südpols war, brauchte er immer noch drei Tage, um ihn exakt zu bestimmen. Doch auch wenn Amundsen als Erster den Südpol markierte, kehrten Scott und seine Mannschaft mit etwa 16 Kilogramm Gesteinsproben zurück, die Fossilien enthielten und sich später als wichtig für die Theorie der Plattentektonik erwiesen.
Stafford hat die Kapitel, die je von einem Entdecker handeln, chronologisch geordnet, wodurch der Leser beobachten kann, wie sich der Inhalt des Gepäcks im Lauf der Zeit wandelt. Finden sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts Fry's Schokolade, Pemmikan, Kokosnüsse und Whiskey im Proviant, enthielten die Taschen im 21. Jahrhundert in Alufolie verpackte Trockennahrung und weniger alkoholische Getränke.
Ein Kapitel gönnt der Autor sich selbst und ein weiteres seiner Frau, beides Abenteurer. Immerhin wanderte Stafford zu Fuß in 860 Tagen als erster Mensch den gesamten Amazonas ab. Dabei stieß er auf einige Gefahren, die er detailreich per Twitter teilte. Hier merkt man, wie sehr der Autor Abenteuer liebt. Man verzeiht es ihm schnell, dass er sich in seinem Buch neben Amundsen, Heyerdahl, Cousteau und Earhart beschreibt, hat er doch einen Grund gefunden, all die spannenden Menschen und ihre außergewöhnlichen Wege unter einem neuen Gesichtspunkt Revue passieren zu lassen. Dabei erörtert er bereits bekannte wie Fragen, etwa: Wo genau ist Amelia Earhart über dem Pazifik abgestürzt? Hat Heyerdahl mit seinen Theorien über die Besiedlung von Polynesien Recht? In den Kapiteln schildert Stafford stets die berühmteste Reise der Abenteurer und berücksichtigt dabei den aktuellen Forschungsstand.
Das Buch verführt den Leser, selbst auf Entdeckungsreise durch die Gepäckwelt der Protagonisten zu gehen. Die Expeditionen ins Unbekannte sind nicht nur spannend geschrieben, das großformatige Buch ist auch liebevoll gestaltet. Je auf einer Seite findet sich der Inhalt des jeweiligen Gepäcks detailreich mit farbigem Buntstift gezeichnet. Es sieht so aus, als seien die Gegenstände auf einer weißen Decke zum genauen Betrachten ausgebreitet. Zudem vermitteln große schwarz-weiße oder farbige Fotos Eindrücke aus den abenteuerlichen Unternehmungen, etwa dick vermummte Polarforscher vor ihrem Zelt, Jacques Cousteau in seinem Haikäfig oder mehrere Ochsen in den peruanischen Anden, welche die Limousine der Rennfahrerin Clärenore Stinnes über Geröllhalden ziehen. Stafford vergisst dabei nicht die spannenden Geschichten vieler Frauen: zum Beispiel von Eva Dickson, die als erste Frau die Sahara im Auto durchquerte, oder Amelia Earharts ersten Flug über den Atlantik sowie Sarah Outen, die die Welt im Ruderboot, Rad und Kajak umrundete.
»Im Rucksack der Entdecker« inspiriert zum Weiterdenken. Was nahm Alexander Gerst wohl mit zur ISS? Oder Dian Fossey, als sie zu den Berggorillas marschierte?
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