Schmelztiegel der Kulturen
Die beeindruckenden Tempel von Angkor in Kambodscha locken jährlich Millionen Besucher aus aller Welt an. Die Bilder von gigantischen Baumwurzeln, die ganze Gebäude umschlingen und überwuchern, sind zu einem Symbol geworden für die Bedrohung kulturellen Erbes durch natürlichen Verfall, aber auch durch menschliche Nachlässigkeit.
Der Sammelband "Im Schatten von Angkor" setzt an dieser Stelle mit zwei erklärten Zielen an. Zum einen wollen die Autoren auf Archäologie und Geschichte Südostasiens aufmerksam machen und so die Kulturgüter in der Region vor Plünderungen und kollektivem Vergessen schützen. Zum anderen möchten sie die facettenreiche, doch großteils vergessene Historie Südostasiens aus dem Schatten von Angkor holen, indem sie den Blick auf weniger bekannte Regionen lenken.
Quer durch die Inselwelt
In 21 Beiträgen geben renommierte Wissenschaftler einen Überblick über die Geschichte und materielle Kultur Südostasiens und umreißen dabei den jeweiligen Forschungsstand sowie die noch offenen Fragen. Die Archäologen, Kunsthistoriker, Restauratoren, Anthropologen und Sprachwissenschaftler widmen sich einem Gebiet, das von Kambodscha und Vietnam über die malaiische Halbinsel bis zur Inselwelt der Philippinen und nach Indonesien reicht. Schlaglichtartig decken sie dabei verschiedene Perioden von der Vor- und Frühgeschichte bis zur Neuzeit ab. Gerade dieser umfassende Überblick macht den Wert des Buchs aus. Denn während wissenschaftliche Sensationsmeldungen aus der Region recht häufig eintreffen, bereitet deren Einordnung in größere historische Zusammenhänge oft Schwierigkeiten.
So schaffte es etwa im Jahr 2014 eine Nachricht in die Schlagzeilen, laut der man den Beginn der bildenden Kunst, bisher knapp 40.000 Jahre vor heute in Spanien verortet, in Indonesien vermuten könne. Auf der indonesischen Insel Sulawesi war es Forschern gelungen, Felsmalereien mit Isotopenmessungen und anderen Methoden zu datieren. Die Zeichnung eines Hirschebers, so hieß es damals, sei mindestens 39.900 Jahre alt und damit möglicherweise die älteste figürliche Darstellung der Welt.
Drehscheibe zwischen den Kontinenten
Der Zürcher Kulturanthropologe Wolfgang Marschall liefert in einem kurzen Beitrag wichtige Hintergrundinformationen, die es den Lesern erlauben, solche Meldungen einzuordnen. So sind die Felsbilder von Sulawesi keineswegs isolierte Funde, sondern Teil einer langen Kunsttradition der asiatisch-australischen Inselwelt, die von chinesischen Einflüssen ebenso geprägt wurde wie von ozeanischer Bildsprache. Sie erlauben damit nicht nur Rückschlüsse auf frühe Migrationsbewegungen, sondern möglicherweise auch, mehr über den Lebensalltag der damaligen Kulturen zu erfahren, wie aus dem Buch hervorgeht. In Bezug auf die absolute Datierung mahnt Marschall indessen zur Vorsicht. Die Analyse von Uran- und Thoriumisotopen habe sich in anderen Fällen aus der Region bereits als überraschend unzuverlässig herausgestellt. Und die Übersinterung und Auslaugung der Kalzite, die man ebenfalls zur Datierung heranzog, unterlägen schwer kalkulierbaren Einflüssen. Um zu differenzierten, belastbaren Erkenntnissen zu kommen, sei eine enge Zusammenarbeit von Natur- und Kulturwissenschaftlern unumgänglich.
Auf diese Weise präsentiert der Sammelband nicht nur die Ergebnisse wissenschaftlicher Arbeiten, sondern zeigt auch den Weg dahin einschließlich möglicher Fehlerquellen. Deutlich wird die zentrale Rolle, die Südostasien als Kontaktzone zwischen verschiedenen Kulturen spielte. So fanden Forscher an der Straße von Malakka neben materiellen Hinterlassenschaften der regionalen Kultur auch indische Goldsiegel, chinesische Bronzespiegel, römische Gemmen und Schmucksteine mit Bildern, die man sonst von antiken griechischen Trinkgelagen kennt – alle aus den ersten nachchristlichen Jahrhunderten. Ohne Südostasien, so der Tenor des reich illustrierten und gelungenen Bands, hätte es kaum einen Warenstrom und kulturellen Austausch zwischen Ost und West gegeben.
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