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»Im Spiegel des Kosmos«: Ein Partygespräch über Wissenschaft

Der prominente Astrophysiker Neil deGrasse Tyson plädiert eloquent dafür, die Dinge auf der Erde von einem Standpunkt im fernen Weltall aus zu betrachten – so könne die Welt ein besserer Ort werden. Doch da, wo es um die Umsetzung dieses löblichen Prinzips gehen würde, ist das Buch leider schon zu Ende.
Verlassene Bahngleise führen unterm Sternenhimmel in Richtung Horizont

Vom Mond aus gesehen bietet die Erde, wie sie groß und blau am Himmel schwebt, ein spektakuläres Bild. Aus dieser Perspektive wirken die Streitigkeiten der Erdbewohner nicht nur sehr weit weg, sondern auch lächerlich klein. Genau das, sagt Neil deGrasse Tyson, sei der richtige Standpunkt für all unsere irdischen Probleme. Wenn wir Trennendes so wichtig nehmen, dass wir bereit sind, uns dafür die Köpfe einzuschlagen, sollten wir uns gedanklich in Außerirdische versetzen, die unseren Planeten besuchen und diesen nach zoologischen Kriterien erforschen. Die Außerirdischen hätten wahrscheinlich die größten Schwierigkeiten, Unterschiede zwischen schwarzen und weißen Menschen für wesentlich zu halten, ganz zu schweigen von verschiedenen religiösen Überzeugungen.

Der Blick aus der Ferne liegt Neil deGrasse Tyson nahe. Der prominente Astrophysiker, Leiter des Hayden Planetarium des American Museum of Natural History in New York, hat im Laufe seiner Karriere immerhin 19 Ehrendoktorhüte gesammelt, und die Degradierung Plutos zum Zwergplaneten geht auf seine Initiative zurück. Zudem betreibt der Autor Öffentlichkeitsarbeit auf zahlreichen Kanälen. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die andere wesentliche Aussage des Buchs verstehen: Die Wissenschaft habe die Welt zu einem besseren Ort gemacht und werde dies auch weiterhin tun – wenn man sie denn lasse. Insbesondere sei die Grundhaltung wissenschaftlichen Arbeitens – an Fakten orientiert, vorurteilsfrei und von Machtfragen unberührt – geeignet, auch zwischenmenschliche Konflikte einer Lösung näherzubringen.

Dem kann ich als Wissenschaftsjournalist nur aus vollem Herzen zustimmen. Entsprechend gut kann ich nachvollziehen, wie Tyson seine Philosophie in mehreren Kapiteln ausführt und anhand von Beispielen belegt. In der Tat ist es traurig zu sehen, wie weit sich die gegenwärtige Praxis, vor allem in den USA, von den Idealen der Wissenschaft entfernt hat. Tyson selbst ist, so seine Darstellung, dreimal durch eine Vorauswahl zum Geschworenen in einem Strafprozess gefallen, weil er zu erkennen gab, dass er seine Entscheidung ausschließlich nach wissenschaftlichen Kriterien treffen würde.

Im Rahmen dieses Buches mag es hinzunehmen sein, wenn der Autor über die Probleme dieser Grundhaltung oftmals recht schnell hinweggeht und gewisse Dinge etwas eigenwillig interpretiert. Bill Clinton hatte während seiner Präsidentschaft ein Stück Mondgestein auf dem Kaffeetisch im Oval Office liegen, so erzählte er es dem Autor. Einen störrischen oder feindselig gesonnenen Gesprächspartner pflegte er durch Verweis auf diesen Stein daran zu erinnern, »dass die kosmischen Perspektiven uns zwingen könnten, einmal innezuhalten und über den Sinn des Lebens nachzudenken und über den Wert des Friedens, der dieses Leben aufrechterhält«. Sehr poetisch; doch meinem Sohn Moritz ist auf der Stelle eine alternative Interpretation eingefallen: »Wir, die USA, sind so reich und mächtig, dass wir einen Menschen auf den Mond schicken und dort Steine aufsammeln lassen können. Und ich bin das Alphamännchen dieses reichen und mächtigen Landes. Also gib besser nach.«

Wenn nur Daten und Fakten zählen

Das Buch kulminiert in der Idee vom Land »Rationalien«. Dieser fiktive Staat kommt mit einer Ein-Zeilen-Verfassung aus: »Sämtliche Politik gründet ausschließlich auf der Beweiskraft von Daten« (im Original etwas deutlicher: »All policy shall be based on the weight of evidence.«). Der Autor führt begeistert aus, wie wundervoll es wäre, wenn nur die Wissenschaft die Staatsgewalt – und damit indirekt weite Teile des menschlichen Zusammenlebens – bestimmen würde. Er bringt zahlreiche, durchaus herzerwärmende Beispiele. Doch scheint ein solcher Staat gegenwärtig absolut unerreichbar. Oder sogar »schrecklich« – so das Wort, mit dem zahlreiche Medien auf Neil deGrasse Tysons Idee reagierten. Denn auch die Jakobiner sahen sich im Besitz der absoluten Wahrheit und die Bolschewiki zumindest auf der richtigen Seite der Geschichte, woraus sie die Berechtigung ableiteten, sehr viele Menschen töten zu dürfen. Es muss schon die »richtige« Wissenschaft sein, die dem Handeln der Herrschenden zu Grunde liegt. Welche das ist und wie man sie gewinnt: Darüber haben kluge Leute viele dicke Bücher geschrieben, ohne je zu einem klaren, allgemeingültigen Rezept zu kommen.

Das sieht auch der Autor. Immerhin bemerkt er, dass auch die – zweifellos den Ideen der Aufklärung entsprungene – amerikanische Verfassung 76 Jahre lang nichts gegen die Sklaverei einzuwenden hatte und 131 Jahre lang den Frauen das Wahlrecht verweigerte. Offensichtlich wandeln sich die Vorstellungen darüber, welche Prinzipien des Zusammenlebens sich aus der Wissenschaft erschließen, im Laufe der Zeit.

Ja, es ist nicht schwer, den Aussagen des Buches zuzustimmen, vor allem weil sein Autor so eloquent schreibt, dass einem abweichende Gedanken nicht sogleich in den Sinn kommen. Wenn das dann aber doch passiert, lässt der Text viele Fragen offen. So nehmen wir ihn einfach als durchaus gelungenen Beitrag zu einem Cocktailpartygespräch über die Segnungen der Wissenschaft im Allgemeinen und der Kosmologie im Besonderen.

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