Von der Muse geküsst
Ein junger Ingenieur beobachtet eine Frau, die verschütteten Kaffeesatz vom Boden aufwischt. Das bringt ihn auf die Idee, das Bodenreinigungssystem Swiffer zu entwickeln, ein "Tuch am Stiel". Die Erfindung beschert einem großen amerikanischen Konsumgüter-Konzern Millionengewinne.
Notwendige Voraussetzungen für solch kreative Leistungen sind vor allem gute Laune und ein entspanntes Gemüt, schreibt der Neurowissenschaftler Jonah Lehrer in diesem Buch. Denn dann herrschten positive Stimmungen vor, ließen wir uns weniger verwirren, würden lockerer und schöpferischer. Das umgekehrte Phänomen kennt wohl jeder: Gerade wenn wir verbissen versuchen, uns an etwas zu erinnern – etwa an den Namen des zufällig auf der Straße getroffenen Menschen oder eines Songs, der gerade im Radio läuft –, dann fällt es uns nicht ein. Unser Gehirn blockiert.
Mit "Imagine!" will Lehrer uns helfen, solche Aussetzer zu verhindern. Fundiert, kompetent und faktenreich behandelt der Autor das Thema Kreativität. Er stellt aktuelle wissenschaftliche Studien vor und räumt mit zahlreichen Mythen rund um höhere Eingebungen und Genialität. Jonah belegt, dass jeder kreativ sein kann, und erörtert, wie kreative Momente zustande kommen beziehungsweise wodurch sie verhindert werden.
Hochkonzentriert, aber unkreativ
Unter anderem zitiert er eine Studie, wonach Wissenschaftler, die Medikamente zur Konzentrationssteigerung verwenden (was auch unter Studenten recht verbreitet ist), deutliche Kreativitätseinbußen haben. Eine andere Studie wiederum belegte, dass Studenten mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) in kreativen Denkaufgaben klar besser abschnitten als ihre "normalen" Kommilitonen. Dies sollten all jene bedenken, die sich dafür aussprechen, Kinder mit ADHS medikamentös zu behandeln, um die Störung "abzustellen".
Eine mögliche Methode, um Kreativität zu fördern, ist Lehrer zufolge das "Conceptual Blending". Der Begriff bezeichnet horizontale Interaktionen zwischen Menschen, also etwa den bereichsübergreifenden Austausch zwischen Mitarbeitern eines Unternehmens – auf dem Flur, beim Kaffee, im privaten Gespräch. Dies führe zu einer Vermischung verschiedener Gedankenwelten und somit zu neuen, plötzlichen Eingebungen, wie Lehrer schreibt.
Einfach mal drauflos
Besonders intensiv geht der Autor auf das New Orleans Center of Creative Arts (NOCCA) ein. Es hat seit seiner Gründung 1973 eine beeindruckende Liste an Künstlern hervorgebracht. Lehrer beschreibt, was so besonders an dieser Einrichtung ist: Hier tummeln sich am Nachmittag Schüler aus verschiedenen Stadteilen, von unterschiedlichen Bildungseinrichtungen und aus allen sozialen Schichten. Sie spielen Instrumente, gestalten, singen, malen, spielen Theater oder schreiben Liedtexte – alles über "Learning by Doing", also kreativ. Kyle Wedberg, der Geschäftsführer des Instituts, beschreibt die Philosophie dahinter: Wolle man Kinder in ihrer Kreativität fördern, gelinge das nicht, indem man sie Fakten lernen und Tests absolvieren lasse. Sondern, indem man sie ihren schöpferischen Einfallsreichtum frei entfalten lasse, und das möglichst früh.
Unverbindlichkeit macht schöpferisch
Es gebe noch einen weiteren Faktor, der für beim Entfalten von Kreativität wichtig sei, betont Lehrer: Die soziale Bindungen des Menschen. Ein Beispiel dafür liefere die Stadt Tel Aviv. Ihr wirtschaftlicher Boom in den letzten Jahrzehnten überträfe den der meisten amerikanischen und europäischenn Städte. Yossi Yardi, Mitbegründer des Chatportals "ICQ", meint, dieser wirtschaftliche Aufschwung hänge mit den "lockeren" sozialen Bindungen zusammen, die in der Stadtbevölkerung aufgrund der anhaltenden Einwanderung vorherrschten. Sie förderten die Kreativität, während feste Bindungen eher das Gegenteil bewirkten. Tatsächlich, erörtert Lehrer, hätten Untersuchungen gezeigt, dass Geschäftsleute mit chaotischen sozialen Netzwerken voller "schwacher Bindungen" deutlich innovativer und erfolgreicher seien als Menschen mit stabiler sozialer Vernetzung.
Lehrer plädiert in seinem Buch dafür, schöpferischen Gedanken mehr Raum zur Entfaltung zu geben. Mit den vielen kleinen und großen Geschichten, die er erzählt, will er zeigen, wie das gelingen kann und welche Einflussfaktoren dabei eine Rolle spielen. Ein anregendes und empfehlenswertes Werk.
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