Das wandelbare Ich
Im Grunde ist die Botschaft von »Individuation« ermutigend: Es ist nie zu spät, die eigene Persönlichkeit zu ändern und damit das ganze Leben in andere Bahnen zu lenken. Ein eindringliches Beispiel liefert Wissenschaftsjournalistin Christina Berndt gleich zu Beginn ihres Buchs: mit der Geschichte eines jungen Mannes, der sich vom pöbelnden Bandenmitglied zum engagierten Fürsprecher hilfloser Menschen wandelte. Unser Ich, unsere Persönlichkeit, sei keine feste Größe, sondern unterliege einem stetigen Wandel. Für manche Menschen sei diese Erkenntnis beängstigend, meint die Autorin, vor allem wenn sie davon überzeugt sind, sich selbst treu zu bleiben. Authentizität, so das Modewort, gäbe uns ja Sicherheit. Dabei ist die Wandelbarkeit, von der Berndt spricht, eigentlich keine neue Erkenntnis. Viele Menschen erleben im Lauf ihres Lebens Situationen, in denen sie sich plötzlich anders verhalten als gewöhnlich, oder machen einschneidende Erfahrungen, die nicht nur den Alltag, sondern auch das eigene Denken und Handeln völlig verändern.
Die schlechte Erinnerung an unser früheres Ich
Die Autorin hält Authentizität für eine Illusion, der wir unter anderem aufsitzen, weil wir uns schlecht daran erinnern, wie wir früher waren. Und weil unser Gehirn rückblickend aus einer Vergangenheit voller Brüche und Widersprüche eine stimmige Geschichte konstruiert. Dennoch ist der Glaube daran hilfreich. Denn wer sich selbst als authentisch erlebt, ist oft psychisch gesünder als Menschen, die eigene Überzeugungen immer wieder in Frage stellen.
Die gute Botschaft ist: Wandel gehört zum Leben und ermöglicht uns die Anpassung an schwierige Situationen. Nahm man früher an, die Persönlichkeit sei mit etwa 30 Jahren ausgereift, weiß man heute, dass der Reifeprozess das ganze Leben andauert und sich sogar die Gewichtung der »Big Five«-Faktoren des gängigsten Persönlichkeitsmodells noch verschieben kann. Zwar ist deren Ausprägung etwa zur Hälfte angeboren, doch wird die andere Hälfte durch die Umwelt geformt. Selbst die ersten Lebensjahre seien weniger wichtig für die Ausbildung der Persönlichkeit als bislang vermutet – eine beruhigende Erkenntnis für Eltern, denen gerne die Verantwortung für spätere Probleme ihrer Kinder bis hin zu Krankheiten wie ADHS und Autismus aufgebürdet wird.
In der zweiten Hälfte des Buchs berichtet die Autorin, wie wir bewusst unser Ich formen können, etwa indem wir uns Freunde, Hobbys und einen Beruf suchen, die zu uns – oder zu dem, der wir sein wollen – passen. Auch wie wir mit unserem Körper umgehen, ob wir Sport machen, wie viel wir schlafen und was wir essen, hat Einfluss auf unsere Gefühle und unser Verhalten.
Entscheidend ist zudem, wie wir über uns selbst denken. Als positives Beispiel nennt Berndt Greta Thunberg, die sich durch die Erkenntnis, mit ihrem Tun andere beeinflussen zu können, von einer menschenscheuen Person zu einer Anführerin entwickelt hat. Wenn wir uns ändern wollen, müssen wir daher zuerst die eigene Wahrnehmung hinterfragen – und dann einfach mal etwas anders machen als sonst.
Ganz konkrete Beispiele dafür liefern verschiedene Miniexperimente für den Alltag. Dabei ist wichtig, sich realistische Ziele zu setzen, da ein häufiges Scheitern die Selbstwirksamkeitserwartung nur senkt und negative Verhaltensweisen zementiert. Darüber hinaus ist das Buch gespickt mit Aussagen von Persönlichkeitsforschern, Psychologen und Experten der verschiedensten weiteren Fachdisziplinen. Es enthält mehrere Tests (etwa zur Eigenwahrnehmung) sowie Übungen, mit denen man gezielt jene Aspekte des Charakters fördern kann, die bei einem selbst nicht stark ausgeprägt sind. Zuletzt finden sich ein ausführliches Literaturverzeichnis und eine Übersicht über die zitierten Wissenschaftler. So bietet das Werk dem Leser gleichzeitig einen Überblick über den aktuellen Stand der Persönlichkeitsforschung und eine Anleitung, wie man die Wahrnehmung des eigenen Ichs kritisch hinterfragt – und dieses gegebenenfalls aktiv gestaltet.
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