Buchkritik zu »Influenza«
Wissen Sie, welches Ereignis im 20. Jahrhundert die meisten Todesopfer gefordert hat? Der Zweite Weltkrieg? Falsch. Es war die Grippeepidemie von 1918. Allein in den USA starben damals innerhalb weniger Monate über 20 Millionen Menschen, und weltweit dürften es rund 100 Millionen gewesen sein – die genaue Zahl kennt niemand. Umso erstaunlicher, dass diese Epidemie fast völlig in Vergessenheit geraten ist. Warum das Influenzavirus, ein ansonsten recht harmloser Krankheitserreger, auf einmal so bösartig wurde und warum diese Variante nach wenigen Monaten wieder verschwand, wurde nie geklärt. Die vielfach ausgezeichnete amerikanische Autorin Gina Kolata ist der Spur nachgegangen; herausgekommen ist ein Musterbeispiel für besten Wissenschaftsjournalismus. Nachdem die ersten Kapitel den Leser in die gruselige Welt der US-Militärkrankenhäuser von 1918 entführen, zeichnet Kolata die Entwicklung der modernen Molekularbiologie und Virusforschung im 20. Jahrhundert nach. Dass ihre Schilderung nie trocken wird, dafür sorgen menschlich-allzumenschliche Episoden, etwa über den schwedischen Wissenschaftler und Abenteurer Johan V. Hultin, der in den fünfziger Jahren im Permafrost Alaskas nach Grippetoten suchte. Selbst eine Anekdote über die Farbenblindheit des britischen Chemikers John Dalton (1766–1844), der die Atomtheorie in der Neuzeit wieder belebte, fügt sich zwanglos in den Erzählfluss ein. Und wie endet das Ganze? Eigentlich gar nicht – in den letzten Jahren hat die Forschung sich zwar intensiver mit dem Influenzavirus befasst, aber die Epidemie von 1918 bleibt ein Rätsel, das noch seiner Lösung harrt. Die Übersetzung ist gut gelungen, wenige kleine Schnitzer stören das Lesevergnügen nicht.
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