In der digitalen Höhle
2006 eröffnete Apple einen Store in der noblen Fifth Avenue in New York. Das »Cube« genannte Gebäude ist eine spektakuläre Ganzglaskonstruktion: Die Besucher sehen nach draußen und die Passanten nach drinnen. Die Architektur ist radikal offen, schwebend, transparent. Für den Philosophen Byung-Chul Han ist der Flagship Store das Symbol einer neuen Herrschaftsform. »Der gläserne Kubus von Apple«, schreibt er in seinem neuen Buch »Infokratie«, »suggeriert zwar Freiheit und grenzenlose Kommunikation, aber in Wirklichkeit verkörpert er die gnadenlose Herrschaft der Information.« Während die Kaaba in Mekka ein dichter schwarzer Vorhang umhüllt und sie sich so der Sichtbarkeit entzieht, ist der Apple-Kubus für jedermann offen. Diese Transparenz besteht für Han jedoch nur vordergründig, weil sich die Transparentmachung der Menschen durch eine Intransparenz der Herrschaft vollzieht.
Der gläserne Bürger
Mit dem Philosophen Michel Foucault argumentiert der Autor, dass sich im Disziplinarregime die Sichtbarkeitsverhältnisse umkehren. Stellte das Regime seine (Souveränitäts-)Macht vorher durch prunkvolle Feste und Zeremonien zur Schau, verberge es nun seine Macht: »Sichtbar gemacht werden nicht die Herrschenden, sondern die Beherrschten.« Die Sichtbarkeit der Unterworfenen würde durch räumliche Maßnahmen wie Einschließung und Isolierung erreicht. Der Insasse des Panoptikons, jener ringförmigen Gefängnisanlage, deren Zelle zum Inneren offen sind, ist ständig im Blickfeld, ohne dass er selbst den Aufseher im Wachturm sehen könnte.
In der Informationsgesellschaft, so Hans zentrale These, lösen sich die Einschließungsmilieus des Disziplinarregimes in offene Netzwerke auf. »An die Stelle der Schließungen treten Öffnungen.« Im Gegensatz zum Disziplinarregime müsse dem digitalen Subjekt die Sichtbarkeit nicht mehr aufoktroyiert werden, es produziere und exponiere sich selbst. Die Menschen seien »in Informationen gefangen«, legten sich selbst Fesseln an. »Das digitale Gefängnis ist transparent«, schreibt Han.
Solche schillernden Formulierungen finden sich immer wieder in dem 100 Seiten schmalen Büchlein. Die literarische Mittelstrecke ist Hans Paradedisziplin. Der wortgewaltige Philosoph hat sich in zahlreichen Werken mit den Machttechniken der digitalen Welt beschäftigt. In seiner jüngsten Schrift unternimmt er den Versuch, die Mechanik der digitalen Medien zu dekonstruieren. Wo sich das Publikum in der Fernsehgesellschaft noch dem kollektiven Amüsement hingab, werde der Zuschauer in der »Infokratie« nun zu einer Art informationellem Prosumenten, der Informationen produziert und konsumiert. Der »Kommunikationsrausch« halte die Menschen in einer »neuen Unmündigkeit« fest, behauptet der Autor, um mit Neil Postman festzustellen: »Wir kommunizieren uns zu Tode.«
Fake News, Social Bots, Info-Kriege – das kommunikative Handeln sieht Han am Ende. Wahrheit habe keine Bedeutung mehr, Diskurse fänden nicht mehr statt, die Demokratie versinke in einem »undurchschaubaren Informationsdschungel«. Der digitalmoderne Mensch werde wieder zum Höhlenmenschen, der sich wie in der platonischen Höhle an »mythisch-narrativen Bildern« berauscht, glaubt Han.
Der Autor zündet ein wahres Feuerwerk an Thesen. Der aufmerksame Leser kommt mit dem Unterstreichen griffiger Formulierungen kaum noch hinterher. Doch dieser prägnante, thesenhafte, zuweilen auch raunende Stil, der für Han so charakteristisch ist, ist auch gleichsam seine größte Schwäche: Denn die Aussagen werden oft nicht hinreichend begründet, so dass sie wie Aphorismen etwas verloren im Text herumstehen.
Dass die Kurzfristigkeit von Informationen und der ihr immanente Beschleunigungszwang der eher langatmigen Demokratie unzuträglich sind, ist eine Intuition, die mehr Analyse bräuchte. Genauso wie die steile These, der »Zwang zur beschleunigten Kommunikation« beraube uns der Rationalität. Die Ausführungen über eine fragmentierte Öffentlichkeit, die in immer mehr Privaträume zerfällt und zunehmend Werbecharakter erhält, sind zudem nicht neu und in der einschlägigen Literatur schon hinreichend diskutiert worden.
Dass die digitale Ordnung generell die »Festigkeit des Faktischen« abschaffe, ist eine Behauptung, die sich empirisch nicht halten lässt, schließlich entstehen im Netz alternative Medien, die den Verschwörungserzählungen etwas entgegensetzen. Trotz des zuweilen etwas überschießenden Kulturpessimismus funkeln in dem Text immer wieder kleine Feuilletons, deren Lektüre selbst in der Gefangenschaft der »digitalen Höhle« ein Vergnügen ist.
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