In extremer Isolation
Fünf Männer hocken frierend in einem engen Zelt, das sie auf einer Insel der Antarktis aufgeschlagen haben. Umgeben von riesigen Gletschern hatten sie eine kleine Fläche frei geschlagen und diesen Schutz vor dem Wüten der kalten Elemente errichtet. Doch jetzt peitschen Wind und Eisregen auf die Zeltbahnen aus geöltem Seidenstoff ein. Der Wind tobt so stark, dass er Fetzen aus dem Stoff reißt. Mit klammen Händen raffen die Männer die Stücke zusammen, immer enger drängen sie sich in dem kleiner werdenden Raum. Ihr Atem schlägt sich als Kondenswasser an den Wänden nieder, tropft auf ihre Köpfe und durchnässt die Schlafsäcke. Durch die offenen Risse faucht weiter eisiger Regen, bald sitzen sie auf einem Boden aus Schneematsch. Doch während drei von ihnen versuchen, das irgendwie auszuhalten und zu überleben, stecken zwei, Frederick Cook und Roald Amundsen, die Köpfe zusammen, diskutieren angeregt und begeistert, wie sich die Ausrüstung bei der nächsten Polarexpedition verbessern ließe.
Es gibt noch viele weitere Szenen im Buch, welche die Begeisterung, Abenteuerlust und Kreativität der beiden Männer auch unter widrigsten Umständen verdeutlichen. Es handelt von der Polarreise des belgischen Schiffes Belgica, das im August 1897 mit 19 Mann in See sticht, um die Antarktis zu erforschen, und davon, wie diese Reise fast zur totalen Katastrophe ausartet. Der Journalist Julian Sancton hat dabei außerordentlich gründlich recherchiert und berichtet ebenso spannend wie in einem Thriller über die Abenteuer des ersten Schiffes, das sich für Monate im Packeis der Antarktis einfrieren lässt.
Selten gibt es Sachbücher, die so faktentreu, aber auch so fesselnd geschrieben und mit solchem Genuss zu lesen sind. Sancton ist damit ein Ausnahmewerk gelungen. Und selbst, wer keine eigenen Ambitionen hat, in unwirtliche Gegenden zu reisen, findet ein Buch vor, das bis zur letzten Seite packend ist.
Ein unfähiger Maschinist und ein übellauniger Koch
Schon auf dem Weg zum Südpol kämpfen die Forschungsreisenden mit zahlreichen Widrigkeiten: Stürme, aufsässige Matrosen und Strandungen. Als das Schiff auch noch zu spät in der Nähe des Ziels eintrifft, muss der nach Ruhm strebende belgische Kommandant Adrien de Gerlache eine schwere Entscheidung treffen: entweder ohne Erfolg nach Belgien zurückkehren oder wenige Tage vor dem Wintereinbruch in der Polarregion so tief ins Eis fahren, dass das Schiff im Packeis festfriert. Gegen den Willen der Mannschaft entscheidet er sich für Letzteres. Die Seeleute der Belgica stecken jetzt für Monate im Packeis fest. An Bord ein unfähiger Maschinist, ein übellauniger Koch, Matrosen unterschiedlicher Nationen in ständigem Streit und ein Kommandant ohne Autorität.
Hier festgefroren müssen sie die völlige Isolation und Kälte des arktischen Winters aushalten. Die Menschen werden von Krankheit, Hunger und der Monotonie in der Enge des Schiffs geplagt. Bald greift in der endlos erscheinenden Dunkelheit der monatelangen Polarnacht der Wahnsinn um sich. Zwar hatte der Kommandant de Gerlache mit Geschick das Schiff sicher durch gefährliche Regionen navigiert, doch die Expedition retten letztendlich der mitreisende Arzt Frederick Cook und der angehende Polarforscher Roald Amundsen. Sie besitzen nicht nur scheinbar unbegrenzten Erfindungsreichtum, beide sind zudem von der Polarforschung begeistert und schöpfen ihre Energie aus ihrem grenzenlosen Optimismus.
Sancton erzählt nicht nur, wie der Arzt die beginnende Depression der Männer mit neu ausgedachten Therapien behandelt und der zukünftige Polarforscher Amundsen die Ausrüstung verbessert. Ihm gelingt ein Roman, der mit allen Sinnen erlebbar ist. Man spürt die Kälte, den Matsch im Zelt, den psychologischen Niedergang und die riesige Freude der Seemänner beim lang ersehnten ersten Sonnenstrahl. Der Autor studierte dafür die Tagebücher der Offiziere und fand sogar ein bislang verschollenes Werk eines Matrosen. Außerdem reiste er ebenfalls an den südlichsten Zipfel der Welt – wenn auch mit einer Kreuzfahrt –, um beschreiben zu können, »wie die Antarktis aussieht, klingt und riecht«. Einige Schwarz-Weiß-Fotos von Frederick Cook helfen ebenfalls dabei, sich die Umgebung vorzustellen. Sie zeigen gestochen scharf das vom Packeis eingeschlossene Schiff, die Einsamkeit und die Männer, die am Ende mit bloßen Händen Eisstücke zu einem Kanal heraussägen, um das Schiff freizubekommen.
Sancton hat viel recherchiert, mit den Nachkommen des Kommandanten de Gerlache gesprochen und die Angaben der persönlichen Reisebücher überprüft. Im Nachwort schreibt er, er sei durch einen Bericht der NASA auf das Thema gestoßen, der die Belgica-Reise als warnende Geschichte, aber auch als Lehrstück studiert. Denn zukünftige Marsexpeditionen müssen ebenso widrige Umstände, lange Einsamkeit fern von allem Bekannten und monotone Ernährung meistern. Diesen Vergleich zog Cook bereits vor 123 Jahren, als er an Bord der Belgica schrieb: »Wir sind so hoffnungslos isoliert wie auf der Marsoberfläche«.
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