Rätsel der Raumzeit
Was wir über Raum und Zeit zu wissen glauben, gilt in einigen Teilen des Universums, in vielen aber auch nicht. Etwa in der Nähe massereicher kosmischer Objekte, in der Welt der subatomaren Teilchen oder des expandierenden Universums. Solche Dinge lassen sich laut Martin Bäker besser verstehen, wenn man sich nicht auf der Oberfläche eines Planeten befindet, sondern weit draußen im All, möglichst weit weg von jeder Schwerkraft und unbeeinflusst von Dingen wie Reibung oder Luftwiderstand.
Darum nimmt Bäker, Physiker an der Uni Braunschweig, seine Leser in diesem Buch mit in ein quaderförmiges, hell erleuchtetes Labor im Nirgendwo. Er bedient damit das Sciencefiction-Motiv des Lebens in Raumstationen. In dieser Umgebung siedelt er Dialoge an zwischen einem humanoiden Roboter namens Isaac und einem Menschen mit dem Namen San. Isaac soll in Laborexperimenten herausfinden, wie sich Objekte in Raum und Zeit verhalten. Hierfür stehen ihm zum Beispiel Laser und diverse Sensoren zur Verfügung. San, quasi sein Lehrer, unterstützt ihn beim Formulieren der richtigen Fragen und beim Interpretieren der Erkenntnisse.
Bezugssystem Erde
Existiert ein Raum? Gibt es einen, der absolut leer ist? Vergeht die Zeit wirklich, oder ist sie eine Illusion? Da wir Raum und Zeit nicht direkt beobachten können, müssen wir untersuchen, wie sich Objekte darin verhalten, lässt Bäker San sagen und gibt damit einen Ausblick auf die Themen, die im Buch zur Sprache kommen.
Der Autor beginnt mit der Mechanik, unter anderem mit Bewegungen in der newtonschen Raumzeit. Diese ist geprägt durch ein absolutes Bezugssystem für die Zeit und ein davon unabhängiges absolutes Bezugssystem für den Raum. Im Alltag verwenden wir unbewusst ein solches und beziehen es auf die Erde, die aus unserer Sicht stillsteht. Das ist sinnvoll, denn in Bezug auf unseren Planeten kommen Objekte unserer Umgebung, auf die keine Kräfte einwirken, immer zum Stillstand – der Tatsache geschuldet, dass es auf der Erde keine Bewegung ohne Reibung gibt. Bei zwei Galaxien beispielsweise ist das anders, dort kann man nicht eindeutig sagen, welche sich bewegt und welche nicht.
Bäker geht sodann auf geodätische Zusammenhänge ein, die bereits weit über das hinausgehen, was man unmittelbar ausprobieren könnte. Auf der Erdoberfläche etwa ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten keine Gerade, sondern eine gekrümmte Linie entlang einer (idealisierten) Kugeloberfläche. Der Roboter Isaac in dem Buch erkennt, dass die Methoden zur Entfernungsmessung kompliziert werden, sobald man sich auf einer gekrümmten Fläche befindet. Noch schwieriger – und für uns intuitiv nicht mehr vorstellbar – wird es, wenn kein zweidimensionales Areal, sondern der dreidimensionale Raum gekrümmt ist. Und besonders vertrackt: wenn man in die Nähe von Schwarzen Löchern kommt. Denn dort lässt sich der Raum so beschreiben, dass er in das Loch hineinstürzt. Bäker erläutert diese Vorstellung in seinem Werk.
Im Lauf des Buchs verheiratet der Autor den Raum mit der Zeit. So zeigt er: Der Abstand zweier Raumpunkte zur selben Zeit ist für alle Beobachter immer gleich, aber der Abstand zweier Ereignisse zu verschiedenen Zeiten kann je nach Beobachter beliebige Werte annehmen. Daraus ergab sich das Konzept der Raumzeit, das der deutsche Mathematiker und Physiker Hermann Minkowski im Jahr 1909 einführte. Er vereinigte Raum und Zeit zu einem vierdimensionalen Gebilde. Albert Einstein stand jener Idee zunächst kritisch gegenüber. Später entwickelte er auf dieser Grundlage die allgemeine Relativitätstheorie. Laut dieser lässt sich die Gravitation als ein geometrisches Phänomen der Raumzeit verstehen.
Lichtgeschwindigkeit und Einsteins Theorien fordern in dem Buch auch Isaacs kognitive Ressourcen heraus. Bäker erläutert, unter anderem im Zuge der Dialoge zwischen Isaac und San, sowohl die allgemeine als auch die spezielle Relativitätstheorie und erklärt anschaulich ihren Zusammenhang zu Raum und Zeit – wobei er der Frage nachgeht, wie stark Materie die Raumzeit krümmt. Dabei zieht er das Beispiel zweier Neutronensterne heran, die eng umeinander kreisen.
Bäkers Buch ist aufschlussreich und ergiebig, erinnert aber in weiten Teilen an ein Lehrbuch der Physik für die Oberstufe. Der Autor macht regen Gebrauch von Formeln, was für das Verständnis nicht unbedingt nötig gewesen wäre – gelegentlich wirkt es sogar so, als hätte er anders keine Möglichkeit der Erklärung gefunden. Über den Lehrbuchcharakter hinweg täuschen können auch nicht die Dialoge von San und Isaac; immerhin lockern sie das Werk unterhaltsam auf, was auch das Ziel des Autors war. Zahlreiche Schwarzweißgrafiken unterstützen das Verständnis. Alles in allem fragt man sich, wohin der Autor mit seinem Werk wollte – in das populäre oder doch eher in das Fachsegment?
Der knapp 550 Seiten starke Band ist gespickt mit fundiert aufbereitetem physikalischen Wissen. Der Anhang steigt noch tiefer ein in die Mathematik und bringt eine Formelsammlung, die laut dem Autor helfen soll, die allgemeine Relativitätstheorie besser zu durchdringen. Ein hilfreiches Glossar rundet das Werk ab. Für die Lektüre benötigt man dennoch reichlich Vorwissen und Durchhaltevermögen; der Band richtet sich also eher an fachnahe Leser(innen).
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