Das irrationale Gehirn
Vernunft ist eine Eigenschaft, mit der wir uns gern schmücken. Sie erlaubt, logische Schlussfolgerungen zu ziehen, unser Verhalten zu steuern und uns an soziale Gegebenheiten anzupassen. Dementsprechend postulierte der französische Philosoph René Descartes (1596-1650), der vernünftige Geist kontrolliere einen (bewusstlosen) Körper. Seine fast 400 Jahre alte These vom Leib-Seele-Dualismus beherrscht noch immer weitgehend das Denken in unserer Kultur.
Mit dem Aufschwung der Neurowissenschaften wird es Zeit, das Wechselspiel von Körper und Geist neu zu hinterfragen. Denn je genauer wir die Funktionen unseres Gehirns verstehen, desto mehr scheinen seine Aktivitäten und das, was wir "Seele" nennen, miteinander verwoben und voneinander abhängig zu sein. Wenn die Vernunft also einen wesentlichen Teil des Menschen ausmacht, müsste dann nicht auch sein Gehirn nach "vernünftigen Regeln" arbeiten?
Kaum – oder zumindest weniger, als die meisten annehmen. Das belegt Lutz Jäncke, Professor für Neuropsychologie an der Universität Zürich, in seinem neuen Buch. Auf mehr als 300 Seiten hat er Erkenntnisse über Hirnfunktionen und Denkmechanismen zusammengetragen, mit dem Ziel, ein allgemeinverständliches Buch zu schreiben, das zu einem besseren Verständnis menschlicher Urteile, Ansichten, Neigungen und Wünsche beitragen soll.
Das Bauchgefühl nicht unterschätzen
Der Neuropsychologe steigt tief in die wissenschaftliche Literatur ein. Als Leser lernt man klassische Experimente und kognitionspsychologische Theorien kennen, ebenso wie kleine, aber funktionell bedeutsame Hirnareale und neuropsychologische Störungen. Dabei wird klar, dass das Unterbewusstsein manchmal bessere Entscheidungen trifft als das Bewusstsein. Unterschwellige Erfahrungen, latentes Vorwissen, Emotionen, unwillkürliche Aufmerksamkeitsmechanismen sowie die Umweltbedingungen beeinflussen unser Denken, Handeln und Erinnern sehr viel stärker, als es den Anschein hat.
Das Gehirn scheint sich die Welt, die es wahrnehmen möchte, selbst zusammenzuzimmern. "Vernünftig" zu agieren, bedeutet für ein neuronales System, sich sozial angepasst zu verhalten – nach erlernten Regeln, die wir uns meist unbewusst über Erfahrungen und Gefühlserlebnisse angeeignet haben. Vernunft ist demnach etwas höchst Individuelles und Relatives. Unvernünftig handelt folglich derjenige, dessen Gehirn unzureichende oder unangemessene Erfahrungen gemacht hat oder dessen neuronales System dysfunktional ist.
Der Autor macht deutlich: Das, was Menschen im Vollbesitz ihrer Vernunft zu sehen, zu fühlen oder sich ins Gedächtnis zu rufen glauben, sind tatsächlich neuronale Interpretationen. Alles unterliegt offenbar der Deutungshoheit des Gehirns – Denkmuster, Erinnerungen, visuelle Eindrücke ebenso wie die Wahrnehmung des eigenen Körpers. Das wirft so gut wie unvermeidlich die Frage auf, ob wir tatsächlich über einen freien Willen verfügen. Eine Frage, die der Autor im Hinblick auf bewusste und vorbewusste neuronale Prozesse diskutiert und eher bejaht. Der Stolz auf die Vernunft, als vermeintlich herausragende Eigenschaft des Menschen, gerät bei der Lektüre allerdings mächtig ins Wanken.
Unklare Ausrichtung
Jänckes Buch ist vollgepackt mit höchst vielfältigen Erkenntnissen aus den modernen Kognitions- und Neurowissenschaften. Leider verliert sich der Autor bei dem Versuch, ein umfassendes Bild des Forschungsstands zu präsentieren, mehrmals in langatmigen und redundanten Erklärungen. Auch wird nicht ganz klar, an welche Zielgruppe er sich wendet. Sprachlich scheint er eher für seine Kollegen als für die breite Öffentlichkeit zu schreiben. Auf der anderen Seite erörtert er zahlreiche Experimente und Theorien, die Neurowissenschaftlern weithin bekannt sein dürften.
Dennoch bleiben Ausgangsfrage und Schlussfolgerung des Autors hochinteressant. Es erstaunt, auf welch wackligen Beinen unser Begriff von Vernunft steht. Und wie viele "Denkfehler" unser Hirn ständig produziert, ohne dass wir es merken. Mit dem Wissen um solche Phänomene lassen sich merkwürdig anmutende Verhaltens- oder vermeintlich unlogische Denkweisen anderer besser nachvollziehen. Sein Ziel, zu einem besseren Verständnis der Mitmenschen beizutragen, hat der Autor erreicht.
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