Mehr ist nicht immer besser
Werner Bartens wünscht sich die Ärzte seiner Kindheit zurück, die einfach mal abwarten konnten und einen mit den Worten »Das wird schon wieder« nach Hause entließen. In seinem neuen Buch kritisiert er Überdiagnosen und Übertherapien und sieht die Lösung vor allem in der Umsetzung evidenzbasierter Medizin. Bartens ist leitender Redakteur des Wissenschaftsressort der »Süddeutschen Zeitung« und populärer Bestsellerautor mehrerer Sachbücher zum Thema Gesundheit. Einige Passagen des Buchs sind bereits in ähnlicher Form in der »Süddeutschen Zeitung« erschienen, und auch sonst erinnert es an frühere Werke.
Sinnvolle Prävention oder Geldmacherei?
Bartens berichtet über eine häufig praktizierte Absicherungsmedizin, die letztlich zu mehr kranken als gesunden Menschen führe. Zudem gebe es infolge exzessiver Bildgebung immer öfter Überdiagnosen, weil man bloß nichts übersehen wolle, da sonst vielleicht Klagen drohen. Er nimmt Früherkennungsuntersuchungen unter die Lupe, die häufig zu Übertherapien inklusive Nebenwirkungen führen, aber nur sehr wenige Menschen vor einem frühen Krebstod bewahren. Er entlarvt überflüssige Therapien wie Antibiotikaverschreibungen bei Erkältungen, Kniearthroskopien bei Arthrose, unnötige Mandel- oder Gebärmutterentfernungen als nicht nützlich, wenn nicht sogar schädlich für die Betroffenen.
Dabei orientiert er sich stets an wissenschaftlichen Studien, die an großen Patientenpopulationen über längere Zeit gezeigt haben, dass bestimmte Behandlungen keine Vorteile bringen. Diese würden vor allem darin bestehen, dass Patienten länger leben oder langfristig eine bessere Lebensqualität haben. Kurzfristige Erleichterungen wie schnellere Schmerzfreiheit oder das Absinken bestimmter Blutwerte gelten dabei nicht als Therapieerfolg. Das ist vermutlich auch einer der Gründe, warum es solche Studien oft schwer haben, in der Praxis umgesetzt zu werden. Denn ein praktizierender Arzt sitzt selten am Schreibtisch und behandelt von dort aus ferne Patientenpopulationen. Vielmehr sitzt ihm eine Person gegenüber, die durchaus zufrieden ist, wenn kurzfristig Erleichterung verschafft wird.
Macht der Gewohnheit, Aktionismus oder mangelndes Interesse an wissenschaftlicher Fortbildung sieht Bartens als mögliche Gründe dafür, dass sich deutsche Mediziner offenbar schwertun, wissenschaftliche Erkenntnisse in neue Behandlungsrichtlinien umzuwandeln. Fakt ist, dass in unserem Wohlstandsland die Gefahr, durch zu viel Medizin geschädigt zu werden, besonders hoch ist. Regelmäßig sei Deutschland im internationalen Vergleich Spitzenreiter in Herzkatheteruntersuchungen, Magnetresonanztomografien oder künstlichen Hüftgelenken. Dafür macht Bartens nicht nur Lobbyisten medizinischer Berufsverbände verantwortlich, die um die Therapiefreiheit von Ärzten fürchten, sondern auch »finanzielle Fehlanreize«.
Was sich zunächst nach unbewussten und marginalen Gründen für die Ausweitung einer Therapieindikation anhört, entpuppt sich im weiteren Verlauf des Buches dann doch als Vorwurf unredlicher Habgier von Ärzten. Doch Bartens berücksichtigt nicht, dass man sich nicht über Überdiagnosen und -therapien wundern darf, wenn ärztliche Praxen nur dann Gewinn abwerfen, wenn sie genügend Privatpatienten behandeln und ausreichend individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) verkaufen. Übergibt man Ärzten die wirtschaftliche Verantwortung für ihren Betrieb, dann muss man auch damit rechnen, dass sie wirtschaftlich handeln. Um solche Entwicklungen zu stoppen, reicht es sicher nicht aus, auf die Profitgier von Ärzten zu schimpfen. Vielmehr müsste das derzeitige Vergütungssystem von Gesundheitsleistungen grundlegend geändert werden.
Alternativmedizinische Therapieverfahren sind Bartens ebenso ein Dorn im Auge wie das »IGeLn«. Bisher sei für kein einziges dieser Therapieverfahren ein besserer Wirkungsgrad als 30 Prozent nachgewiesen worden. Das entspricht ziemlich genau der Wirksamkeit eines Placebos, also einer Scheinbehandlung. Bartens führt den Boom der Komplementärmedizin vor allem darauf zurück, dass sich Alternativtherapeuten mehr Zeit für ihre Patienten nehmen. Personen erfahren dort das, was sie suchen, nämlich Verständnis und Zuwendung. So könne die »Droge Arzt« wirksam werden.
Der Autor stellt viele diagnostische und therapeutische Maßnahmen auf den Prüfstand. Zum Ende hin verspricht er Wege aus der Krise aufzuzeigen. Die international bereits etablierte Kampagne »Choosing Wisely«, in der Ärzte und Patienten aufgefordert werden, nach dem Prinzip »mehr ist nicht immer besser« zu handeln, scheint ein guter Ansatz zu sein. Trotz allem sind die Verflechtungen im deutschen Gesundheitssystem zwischen Krankenkassen, Krankenhausgesellschaften, Berufsverbänden, Fachgesellschaften und praktizierenden Akteuren so komplex, dass es mit einem »einfach mal abwarten, bis es von allein wieder weggeht« wohl nicht getan ist.
Wie alle Bücher von Bartens ist auch dieses gut geschrieben und flüssig zu lesen. Literatur- und Quellenverzeichnis sind ergiebig und gut sortiert. Bartens versucht das Dilemma der deutschen Medizin von verschiedenen Seiten zu beleuchten. Insgesamt bleibt die Darstellung aber etwas einfach und einseitig. Auch die versprochene Lösung, den Weg aus der Krise, findet man leider nicht.
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