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»Jura not alone«: Wenn die Klobürste zur Waffe wird

Ob es um Grundrechte, Klimaschutz oder Extremismus geht: Nora Markard und Ronen Steinke zeigen anschaulich, wie wichtig juristisches Wissen ist. Eine Rezension

Der Titel des Buchs hat nicht nur das Zeug zum Ohrwurm, er enthält auch seine Kernbotschaft: Recht muss kein Herrschaftsinstrument sein, das Hierarchien absichert, sondern kann mehr Freiheit und gesellschaftliche Verbesserungen ermöglichen – und zwar dann, wenn viele daran mitarbeiten, es seinem Geist nach umzusetzen: »Jura geht nicht allein.«

Ob Straf-, Polizei- oder Arbeitsschutzrecht: Wie es um die Rechtspraxis in Deutschland bestellt ist, beschreibt Juraprofessorin Nora Markard gemeinsam mit dem Juristen und Journalisten Ronen Steinke anhand von Beispielen aus zwölf Rechtsgebieten. Die realen und aktuellen Fälle zeigen anschaulich, wie Juristen zwischen Interessen von Einzelnen und der Gemeinschaft abwägen oder ethische Fragen reflektieren müssen. Dabei geht es Markard und Steinke nicht um Falschparker oder Einbrüche in Häuser. Sie haben vielmehr die Grundrechte und deren Verletzung im Blick, äußern sich zu Folter (mit deutscher Hilfe), Asylrecht, Klimaschutz, Angriffskriegen, Polizeigewalt sowie einzelnen Themen aus dem Völker- oder Sozialrecht.

Einige der diskutierten Fälle sind aus den Medien bekannt – etwa die Versteigerung gestohlener Kandinsky-Gemälde und die rechtlichen Fragen rund um Nazi-Raubgut, die sie aufwarfen. Markard und Steinke rekonstruieren, wie Jugendliche von den Nordseeinseln Pellworm und Langeoog vor dem Bundesverfassungsgericht die Umsetzung des Klimaschutzgesetzes erstritten haben, weil die Inseln im Rahmen des Klimawandels unbewohnbar zu werden drohen. Sie überlegen, wie angesichts einer drohenden Katastrophe ziviler Ungehorsam rechtlich zu bewerten ist, etwa wenn sich Menschen auf Straßen festkleben. Sie erläutern, warum Nordseerobben in Deutschland vor Gericht nicht als klagende Partei eingeführt werden können, in anderen Ländern aber schon; wie eine aserbaidschanische Journalistin um ihr Leben fürchten musste, weil der BND Geheimdienstinformationen mit zweifelhaften Regimen teilte, und diese Praxis vom Bundesverfassungsgericht verurteilt wurde; oder mit welcher rechtlichen Begründung vor Bahnhöfen und auf Flughäfen demonstriert werden darf. Immer wieder zitieren sie dabei auch die Rechtsauffassungen anderer Experten.

Einige der Beispiele sind durchaus skurril. So wurde 2014 in Hamburg ein Stadtteil zum Gefahrengebiet erklärt, damit Menschen dort auch ohne Anlass von der Polizei durchsucht werden konnten. Dabei stellte die Polizei bei einem Mann in einem Bus eine Klobürste sicher und erklärte diese zur Waffe. Der Hintergrund: Das Toilettenutensil war ein Symbol für linke Gruppen in St. Pauli, die unter dem Motto »Wir sind widerbürstig« auftraten. Die Gerichte urteilten später: Einen Raum ohne tragfähige Begründung zu einem Gefahrengebiet zu erklären, ist verfassungswidrig.

Recht in Gefahr

Markard und Steinke erwähnen auch, wie wichtig Recht und Gesetz beim Einhegen politischer Ambitionen sind. Ob bei Diskussionen um die Strafbarkeit von Vergewaltigungen in der Ehe, den Einsatz von Brechmitteln bei der Verfolgung von Drogendelikten oder den Schutz des Verfassungsschutzes vor politischer Einflussnahme: Oft sind es Gesetze und Gerichte, die dem Reden und Handeln von Politikern Grenzen setzen und es mitunter auch sanktionieren müssen. Es sei allerdings nicht immer einfach, sein Recht auch zu bekommen, so das Autorenduo. Gegen Racial Profiling, für die Rechte der Natur oder um ein gemeinsames Sorgerecht für Kinder von zwei Partnerinnen müsse trotz eindeutiger Rechtslage immer noch gekämpft werden. Doch es bewege sich etwas, meinen sie.

Als ernste Gefahr beschreiben Markard und Steinke die Möglichkeit, dass unser demokratisches System dem politischem Extremismus insbesondere von rechts zum Opfer fallen könnte – juristisch sei es dagegen völlig unzureichend geschützt. Sie gehen Schritt für Schritt durch, wie selbst derjenige Teil des Grundgesetzes, der eigentlich als unveränderlich festgeschrieben wurde, dennoch abgeschafft werden könnte. Eine Änderung der Anzahl der Richter und Richterinnen des Bundesverfassungsgerichts oder die willkürliche Festlegung einer Altersgrenze seien nur einige der juristischen Kniffe, durch die Grundgesetz und Demokratie ausgehebelt werden könnten. Das stünde zwar, so Markard und Steinke, für Deutschland wohl nicht unmittelbar bevor. Gleichzeitig verweisen sie aber auf Polen oder Ungarn, wo dies in ähnlicher Weise bereits geschehen sei.

Das Buch ist spannend zu lesen und vermittelt einen guten Eindruck von juristischem Denken. Auch der ausführliche Anhang ist unterhaltsam, liefert er doch neben Anmerkungen und Quellenangaben auch eigene Geschichten hinter den Geschichten. Wer das Buch von Markard und Steinke aufmerksam studiert, versteht, wie Recht funktioniert und wie es vor willkürlicher Herrschaft schützt. Recht ist veränderbar, doch, so ihre Botschaft: Demokratisch bleibt es dabei nur, wenn viele Menschen es mitgestalten; wie es der titelgebende Ohrwurm formuliert: »Jura geht nicht allein.«

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