Buchkritik zu »Justus von Liebig«
Das Leben des bedeutenden Chemikers Justus von Liebig (1803–1873) ist 1909 von seinem Schüler Jakob Volhard in einer Biografie gewürdigt worden. Dessen Pionierleistung will der renommierte Chemiehistoriker William Brock mit seinem neuen Buch, das sich auf Volhards Werk stützt, nicht ersetzen, sondern vervollständigen. Das erste Kapitel beschreibt die frühen Jahre und den Weg Liebigs "Von der Pharmazie zur Chemie" bis zur Ernennung des 21-Jährigen zum außerordentlichen Professor in Gießen 1824. Die beträchtlichen Bemühungen seines Lehrers Karl Wilhelm Kastner, Liebig den Weg in eine Universitätslaufbahn zu ebnen, dankte dieser ihm mit ziemlich abfälligen Bemerkungen in seiner Autobiografie, wo er Kastners chemische Kenntnisse mit der Ausstattung einer Trödelbude verglich. Die diffizile homoerotische Verbindung des jungen Liebig zu dem Dichter August von Platen wird einfühlsam geschildert, ebenso Liebigs Auseinandersetzung mit dem Gießener Lehrstuhlinhaber Wilhelm Zimmermann und dessen tragischer Ertrinkungstod 1825. Liebigs Gießener Labor, seine privaten Kurse in praktischer Chemie, seine Redaktionstätigkeit bei den nachmals nach ihm benannten "Annalen" und seine Erfindung des "Fünf-Kugel-Apparates", der die organische Elementaranalyse zu einer Standardoperation werden ließ, werden eingehend erläutert; Brock bietet aufschlussreiche Zahlen über Liebigs Schülerkreis und dessen internationale Zusammensetzung. Im dritten Kapitel wird "Liebig – der organische Chemiker" vorgestellt. Hier finden sich neben sprachlich wohl unfreiwillig komischen Formulierungen ("explosionsartiges Interesse an Fulminaten", S. 66) auch sachliche Unrichtigkeiten. So sind die historisch äußerst bedeutungsvollen Untersuchungen zur Bildung von Diethylether aus Ethanol und Schwefelsäure ziemlich unübersichtlich und teilweise irreführend dargestellt. Die Geschichte der organischen Chemie bis etwa 1850 ist kompliziert. So war es damals umstritten, ob Kohlenstoff das Atomgewicht 6 oder 12 hat; es wäre daher sinnvoll gewesen, in der Darstellung die modernen Formeln neben den zeitgenössischen mit anzuführen und im Text deutlich zu machen, welches Kohlenstoff-Atomgewicht jeweils gemeint ist. Eine Überarbeitung des Textes von Brock "nach dem neuesten Stand der Liebig-Forschung" – wie im Vorspann angekündigt – ist jedenfalls nicht erreicht worden. Das nächste Kapitel beschreibt sehr sachkundig Liebigs Beziehungen zu seinen englischen Schülern und den dortigen Fachkollegen, seine öffentlichen Auftritte und Ehrungen. Hier ist der Autor offensichtlich in seinem Element. Nur erscheinen neben dieser ausführlichen Darstellung Liebigs Beziehungen zu Frankreich weitaus unbedeutender, als sie in Wirklichkeit waren. Liebig vertrat die Überzeugung, dass die Chemie letztlich nicht um ihrer selbst willen zu betreiben sei, sondern das Ziel haben müsse, die Lebensverhältnisse der Menschen zu verbessern. Abgesehen von seinen Beiträgen zur Theorie der orga-nischen Chemie waren seine Arbeiten immer anwendungsorientiert. Zwischen einer auf das Wohl des Menschen ausgerichteten Forschung und einer privat-kommerziellen Nutzung der dabei erhaltenen Ergebnisse sah Liebig keinen Widerspruch, was ihm gerade in unseren Tagen kaum anzukreiden ist. Liebig hatte erkannt, dass Chinin und das ebenfalls in der "Chinarinde" enthaltene Chinidin die gleiche Bruttozusam-mensetzung aufweisen. (In der Tat sind beide Moleküle stereoisomer.) Da sich zeigte, dass auch Chinidin Fieber senkend wirkt, und Liebig ein Verfahren ausarbeitete, das Chinidin aus dem bis dahin praktisch wertlosen "Chinoidin", dem Rückstand der Chininextraktion, zu isolieren, bildete sich ein Konsortium, das billig dieses Chinoidin aufkaufen sollte, um es nach Bekanntgabe von Liebigs zunächst geheim gehaltenem Verfahren teuer wieder zu verkaufen. Diese "Chinin-Chinidin-Verschwörung" ist auch bei Liebig-Kennern kaum bekannt. Natürlich wollte Liebig nicht offen als Aufkäufer in Erscheinung treten, da man ihn dann zu Recht als Spekulanten angesehen hätte. Letztlich scheiterte die "Verschwörung", und Liebig erlitt erhebliche Verluste. Breiten Raum widmet Brock in den folgenden Kapiteln der Bedeutung Liebigs für die Landwirtschaft und die Physiologie. Beide Bereiche wollte Liebig mit einer klaren, rationalen Grundlage ausstatten. In der Landwirtschaft war dies seine Düngertheorie, in der Physiologie die Konzeption des Organismus als ein grundsätzlich nach den Gesetzen der Chemie funktionierendes System. Brock geht ausführlich darauf ein, erläutert auch die Positionen seiner Kritiker. Den Bemühungen Liebigs zur Verbesserung der Volksernährung durch Fertignahrungsmittel wie Fleischextrakt und Babynahrung sowie seinen Vorschlägen zu einem auf chemischen Einsichten basierenden Kochbuch widmet Brock einen eigenen Abschnitt. Interessant und vielleicht weniger bekannt sind Liebigs Aktivitäten im Zusammenhang mit der Nutzung der Londoner Abwässer, die nach der Einrichtung der Kanalisation 1858–1865 anfielen. Liebig war der festen Überzeugung, dass die Nutzung menschlicher Exkremente als Naturdünger nicht nur sinnvoll sei, sondern sogar von strategischer Bedeutung, sofern nämlich im Kriegsfalle die Versorgung mit Guano aus Südamerika ausfalle. In der Serie der "Chemischen Briefe" in der "Augsburger Allgemeinen Zeitung" beschritt Liebig zukunftweisende Wege der Popularisierung naturwissenschaftlicher Themen. Die Chemischen Briefe trafen auf ein bemerkenswert interessiertes Publikum, waren für die Akzeptanz von Naturwissenschaft und Technik nicht nur in Deutschland von maßgeblicher Wirkung und beeinflussten auch die Herausbildung einer deutschen chemischen Fachprosa. Die englische Originalausgabe von 1997 trägt den Untertitel "The Chemical Gatekeeper". Brock will damit auf die Vermittlerfunktion Liebigs zwischen Deutschland und Großbritannien verweisen. Liebig selbst sah sich wohl weniger als Torwart, sondern vielmehr als Schiedsrichter, dazu berufen, die Leistungen anderer zu beurteilen, wobei er selten eine Gelegenheit zu handfester Polemik mit seinen Zeitgenossen ungenutzt ließ. Schwer nachvollziehbar und nicht allein mit Liebigs Freude am fachlichen Streit zu erklären ist die so genannte Bacon-Affäre. Liebig hatte immer wieder die für seinen Geschmack überzogen utilitaristische Sicht der Engländer in Bezug auf die Naturwissenschaften und die damit einhergehende Theoriefeindlichkeit kritisiert. Den Grund für diese Haltung sah er in den Lehren von Francis Bacon (1561–1626), die er als obskurantistisch und wertlos verurteilte, obwohl er früher selbst Bacon zustimmend zitiert hatte. Diese – letztlich fruchtlosen – Attacken, die in der britischen Öffentlichkeit auf Unverständnis stießen, führt Brock da-rauf zurück, dass Teile der Scientific Community, die Liebig als von Baconschem Geist durchdrungen ansah, seine Düngertheorie ablehnten. Ferner erörtert Brock die zum Teil widersprüchlichen Aussagen zur Existenz einer Lebenskraft und die Frage, inwieweit Liebigs Weltsicht materialistisch geprägt war (was Brock eher verneint). Neben dem üblichen Anmerkungsapparat enthält das Buch unter anderem eine genaue Beschreibung des Gießener Labors von 1841, einen von Jahr zu Jahr fortschreitenden tabellarischen Lebenslauf, eine kurze Bibliografie der wichtigsten Publikationen Liebigs sowie einen Namens- und Sachindex. Illustriert wird das ansprechend gestaltete Buch mit Schwarz-Weiß-Abbildungen von eher mäßiger Qualität. Trotz kleinerer Mängel sei das Buch allen einschlägig Interessierten zur Lektüre empfohlen.
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