Die Welt auf Papier
Das war für viele Menschen schon immer ein Ziel: sich ein Bild zu machen von den Orten, an denen sie leben. Und weiterzustreben in Regionen, die sie kaum oder gar nicht kennen. Wie ist es dort, wo findet sich was? Das führte zu ersten Skizzen, aus denen sich irgendwann mehr entwickelte: Land- und Seekarten. Die waren zunächst ungenau, keineswegs frei von Fehlern und Spekulationen, aber dennoch etwas Kostbares: ein Portal in ferne Länder; ein wertvoller Wegweiser zu möglichen Eroberungen, Besitztümern und Schätzen, zu anderen Kulturen. Karten, das waren Blätter, die die Welt bedeuteten.
Viel davon vermittelt der Bildband »Kartenwelten« der US-Wissenschaftsjournalistin Betsy Mason und ihres Kollegen Greg Miller. Beide haben sich schon früher mit Kartografischem befasst. Ihnen ist in jahrelanger Arbeit und dank reichlichen Kartenmaterials, das ihnen Kolleg(inn)en zur Verfügung gestellt haben, ein ungewöhnliches Werk gelungen: prächtig im Großformat angelegt, opulent bebildert, übersichtlich gegliedert, und mit zahlreichen ebenso animierenden wie aufklärenden Texten versehen. Das führt bei 319 Seiten zu einem Gewicht von gut 2,3 Kilogramm – gewichtig im doppelten Wortsinn.
Das Versprechen, ein Geheimnis zu enthüllen
Obgleich es in dem Werk um eine Geschichte der Kartografie geht – genauer um diverse einschlägige Geschichten –, ist der Band nicht chronologisch geordnet, sondern nach Themen. Neun große Kapitel behandeln Aspekte wie »Wasserstraßen«, »Konflikte und Krisen«, »menschliche Erfahrungen« und »Landschaften«. Stets legen die Autoren dar, womit wir es jeweils zu tun haben und wie, wo und wann sich durch wen etwas vollzog. Dazu kommen rund 250 Karten aus vielen Jahrhunderten.
Schon das erste Durchblättern lässt staunen, erst recht die eingehende Lektüre. Zustimmung gibt es bereits für diese einleitenden Sätze: »Die Karte ist eines der besten Werkzeuge für Illustration und Ideentausch, die je erfunden wurden. Karten können bezaubern und fesseln, weil ihr Aussehen etwas Faszinierendes oder Reizvolles hat, das mit dem Versprechen lockt, ein Geheimnis zu enthüllen.«
Rasch wird klar: Das Kartieren von Küsten, Flüssen und Meeren war wegweisend für das Aufspüren unbekannter Territorien, etwa hinsichtlich arktischer Gewässer. Dabei pflegten Kartografen wie der Niederländer William Barents um 1600 den Brauch, etliche Meeresungeheuer aus dem Reich der Fantasie einzuzeichnen. Gerhard Mercator verzichtete 1633 bei seiner Nordpolarkarte auf solche Zutaten, doch fügte er eine Insel ein, die es nicht gab. 1939 schuf Miguel Covarrubias sechs große Karten, die sehr gekonnt die Flora und Fauna rund um den Pazifik in den Vordergrund rückten. Es ist erstaunlich, welch unterschiedliche Phänomene Mason und Miller in ihren Kapiteln zusammengetragen haben.
Im Abschnitt »Konflikte und Krisen« referieren sie zum Beispiel, wie wichtig Karten für das Militär waren (und sind): für die Aufklärung, für den Nachschub, für mögliche Verstecke. Zeichnungen gibt es ebenso zu den Zerstörungen des 2. Weltkriegs. Bekannt dürfte weiterhin sein, dass es selbst in neuerer Zeit bestimmte Areale auf Karten gibt, die merkwürdig leer erscheinen – das deutet meist auf Truppenübungsplätze, Rüstungsanlagen und Raketentestgelände hin.
Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der englische Arzt John Snow den Ausbruch der Cholera in London topografisch sehr akkurat festgehalten. Das ermöglichte später, den Verbreitungsweg des Erregers – nämlich über öffentliche Wasserpumpen – zu klären. Heute blicken wir gebannt auf Karten, die uns nach wenigen Tagen darüber informieren, wie sich Viren des Typs SARS-CoV-2 über den Globus ausbreiten. Navis wiederum haben das Fahren von A über B nach C samt Stauhinweisen ganz ohne Straßenatlas alltäglich gemacht.
Die Kartografie erweist sich hier als höchst komplexes Fach, das von vielen Disziplinen profitiert, besonders von Mathematik und Geometrie, von technischen Sparten, der Geografie, der Astronomie, der Typo- und Topografie, in neuerer Zeit auch von Informatik und Fotogrammetrie; bei Letzterer sind Messkameras unverzichtbar für die Fernerkundung und die präzise Lage von Objekten.
Leider vernachlässigt das Buch die Beiträge von Geistlichen, die einst von großer Bedeutung für das Fach waren – im Mittelalter etwa Fra Mauro, Roger Bacon, Nikolaus Cusanus und Albertus Magnus. Auch die frühen Erkenntnisse aus dem arabischen Raum und die viel späteren Leistungen des Seefahrers und Kartografen James Cook (1728-1779) kommen in dem Werk zu kurz. Dafür erfährt man Erstaunliches über die Visualisierung Amsterdams, die Stadtplanung von Washington D.C. oder die raffinierten Spezialkarten für Londoner Taxifahrer – oder auch über den »U-Boot-Terror auf dem Meer«, die Utopie von Gartenstädten sowie die grafische Darstellung von Warenströmen. Den Bildtexten hierzu hätte ein etwas größerer Schriftgrad gutgetan.
Nach dem Lesen dieses sehr empfehlenswerten Bands ist klar geworden: Wer in dieser Welt nicht auf Karten setzt, ist nicht von dieser Welt.
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