Er will – sie nicht
Die Leidenschaft ist in den Betten vieler Paare nur selten zu Gast: Im vergangenen Monat hatte jeder sechste in einer Beziehung lebende Deutsche keinen Sex, lautet das Ergebnis einer Studie der Universität Göttingen mit rund 15 000 Teilnehmern. In der Regel hat die Frau weniger Interesse. Doch warum?
"Lustlosigkeit ist ein Symptom, keine Diagnose", erklärt Beatrice Wagner, Autorin des vorliegenden Buchs. Eine erkaltete Leidenschaft könne vielfältige Ursachen haben: von gesundheitlichen Problemen über Alltagsfrust bis hin zu traumatischen Erfahrungen. Wie man die Gründe überhaupt zum Vorschein bringt, erläutert die Sexualtherapeutin an zehn Beispielen aus ihrer Münchner Praxis. Daneben geht es natürlich noch um andere Themen, obschon sie diese stets mit dem Thema Lust verbindet – seien es Kindheitstraumata, eine Vorliebe für SM-Praktiken oder Angst vor Nähe.
Unklare Methodik
Die Autorin, so erfährt man im Lauf der Lektüre, ging bei dem renommierten deutschen Psychologen Ernst Pöppel und dem US-Sexualtherapeuten David Schnarch in die Schule. Sie hat jedoch eine eigene Methode entwickelt, die "Identitätsstiftende Therapie" (IST). Ihr Grundgedanke: Oft hätten die Probleme im Bett "mit einer noch entwickelbaren sexuellen Identität zu tun". Ob ihre darauf fußende Sexualtherapie nicht nur laut Wagners klinischer Erfahrung, sondern nachweislich hilft, bleibt jedoch offen. Auch ihr genaues methodisches Vorgehen muss sich der Leser selbst aus den Fallgeschichten erschließen.
Andere wissenschaftliche Hintergründe kommen ebenfalls zu kurz. Wagner schildert vor allem die "Trialoge" in den Sitzungen, die Beziehungsgeschichte der Paare sowie ihre eigenen Gedanken dazu. Vereinzelt streut sie Absätze ein, die den jeweiligen Fall aus wissenschaftlicher Perspektive beleuchten. Auch wenn nicht immer unmittelbar nachvollziehbar ist, inwiefern dies Licht in den betreffenden Fall bringt, hätte die Autorin noch mehr Wissenschaft einfließen lassen können. Denn dabei lernt man einiges, etwa über den Sinn eines Beckenbodentrainings für Männer, oder darüber, warum der exzessive Konsum von Online-Pornos in den sexuellen Burnout treiben kann.
Wagner erweitert die Perspektive auf sexuelle Probleme, weg von der simplen Diagnose hin zu einem systemischen Verständnis der Paarbeziehung, und regt so zum Nachdenken an. Sie versäumt es nur leider, ihre therapeutische Vorgehensweise auf ein wissenschaftliches Fundament und methodisches Gerüst zu stellen. Für beruflich interessierte Leser wie Ärzte, Berater und Therapeuten ist die Lektüre deshalb zwar nicht weniger anregend, sie bietet aber keine fachlich fundierte Orientierung für die eigene Praxis.
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