Science und Fiction
Eine KI-Versicherung überwacht die Handlungen ihrer Kunden und bemisst so den zu zahlenden Beitrag: Darum geht es in der ersten von zehn Zukunftsvisionen für das Jahr 2041, die der Informatiker Kai-Fu Lee zusammen mit dem Sciencefiction-Autor Qiufan Chen verfasst hat. Die futuristische Versicherung bringt einige Vorteile mit sich, wie die Autoren am Fall einer fiktiven indischen Familie verdeutlichen. Sie hören mit dem Rauchen auf, ernähren sich gesünder – und sparen dadurch Geld. Doch nicht alles entwickelt sich positiv: Als die Tochter sich mit einem Jungen aus einem ärmlicheren Viertel anfreundet, funkt die KI immer wieder dazwischen, denn bei einem Besuch in der neuen Umgebung erhöht sich die Gefahr für Unfälle, Gewaltverbrechen und Krankheiten. Wie sich herausstellt, scheint die KI vorurteilsbehaftet.
Große Visionen unter vielfältigen Blickwinkeln
Die neun weiteren Kurzgeschichten sind ähnlich wie dieses Beispiel gehalten. Es handelt sich weder um Zukunftsdystopien, die neue Technologien verteufeln, noch zeigen sich die Autoren uneingeschränkt euphorisch, was künftige Möglichkeiten angeht. Sie versuchen stets einen sachlichen Blick zu behalten, indem sie sowohl die möglichen Vor- als auch die Nachteile der KI-Technik aufzeigen.
Die Kurzgeschichten sind dennoch abwechslungsreich gestaltet und spielen in unterschiedlichen Teilen der Welt: von Südostasien und dem Nahen Osten über Westafrika bis nach Europa, Australien oder Amerika. Dabei decken sie verschiedenste gesellschaftliche Themen ab, wie die Pandemiebekämpfung, die automatisierte Arbeitswelt, ein bedingungsloses Grundeinkommen, Kryptografie und Datenschutz sowie Glücksforschung. Die Geschichten sind spannend und lebendig geschrieben, bisweilen fällt es schwer, das Buch aus der Hand zu legen.
Im Anschluss an jede Erzählung findet sich ein Faktencheck. Darin beschreiben die Autoren die Technologien, die in der Kurzgeschichte auftauchen, und ordnen sie ein. Die vorgestellten KI-Systeme sind dabei keineswegs völlig aus der Luft gegriffen, sondern bauen stets auf heutigen Konzepten auf. Daher erklären Lee und Chen zunächst, was die Technik aktuell schon vermag – und welche Möglichkeiten sich höchstwahrscheinlich in 20 Jahren eröffnen werden.
In ihrem Vorwort beschreiben die beiden Autoren ihr ungewöhnliches Vorgehen zur Entstehung des Werks. Lee trat mit der Idee für das Buch an Chen heran und bat ihn um Hilfe für den kreativen Teil: Er sollte fesselnde Geschichten um die trockenen Technikthemen spannen. Den Beginn der Arbeit machte allerdings Lee, indem er eine Technologiekarte entwarf, die vorhersagt, wann welche Systeme marktreif wären. Dabei kann Lee auf ein breites Sachverständnis und viel Erfahrung zurückgreifen: Er forscht seit 40 Jahren an KI-Themen und war an Projekten bei zahlreichen Unternehmen wie Apple, Microsoft und Google beteiligt.
Tatsächlich erscheinen die Geschichten beim Lesen durchaus realistisch. Vor allem, wenn man bedenkt, wie sich die Technologie in den letzten 20 Jahren entwickelt hat. Die kurzen Anhänge über die KI-Grundlagen lesen sich gut und verschaffen einen umfassenden Überblick zu den wichtigsten Themen des Gebiets, von neuronalen Netzen, Computer Vision, Sprachassistenten, aber auch GANs und spezielle Beispiele wie GPT-3. An manchen Stellen würde man allerdings gerne mehr erfahren; leider haben die Autoren auf ein Literaturverzeichnis verzichtet.
Doch das ist nur ein kleines Manko für ein sonst hervorragendes Buch. Es spricht gleichermaßen Laien als auch in dem Fach bewanderte Personen an, denn es macht Spaß, den Zukunftsvisionen der Autoren zu folgen. Das Werk lässt sich als möglicher Wegweiser nutzen, der aufzeigt, welches Potenzial in den Technologien steckt, aber auch mahnt, die möglichen Folgen der Nutzung genauer zu hinterfragen. Denn wie die Autoren immer wieder verdeutlichen: Die eigentliche Gefahr geht nicht von der Technologie aus, sondern von den Menschen, die sie nutzen.
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