Direkt zum Inhalt

Das Privatsphäre-Paradoxon

Der Psychologe Gerd Gigerenzer seziert in seinem neuen Buch die Macht der Datenkonzerne.

2019 führte der Psychologe Gerd Gigerenzer zusammen mit dem Versicherer Ergo eine repräsentative Umfrage unter 3200 Menschen in Deutschland durch. Demnach sahen 75 Prozent der Befragten den Verlust der Privatsphäre als die größte Gefahr der Digitalisierung an. Auf die Frage, wie viel Geld sie im Monat bereit wären auszugeben, damit Dienste wie Facebook, Whatsapp oder Instagram keine persönlichen Daten mehr über sie sammeln oder weitergeben, gaben 75 Prozent an: nichts. 18 Prozent würden bis zu fünf Euro im Monat bezahlen, nur zwei Prozent würden mehr als zehn Euro in die Hand nehmen. Man zahlt für Streamingdienste oder Kabelgebühren, aber die Privatsphäre ist den meisten Menschen keinen Cent wert, obwohl sie sich vor ihrem Verlust sorgen. Wie passt das zusammen?

Klicken und akzeptieren

Experten sprechen vom Privatsphäre-Paradoxon. Das Phänomen ist unterschiedlich ausgeprägt. In den Vereinigten Arabischen Emiraten und Brasilien ist die Zahlungsbereitschaft deutlich höher als etwa in Deutschland oder Neuseeland. Dass man die vermeintlich kostenlosen Angebote mit seinen Daten bezahlt und der Deal »Daten gegen Dienste« ein fauler ist, weil man durch Risikoaufschläge am Ende doch mehr Geld für Versicherungen oder Kredite bezahlt, dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben. Trotz diverser Datenskandale geben viele Verbraucher aber immer noch arglos sensible Daten von sich preis – nach dem Motto: »Ich habe nichts zu verbergen.«

Für den Risikoforscher Gigerenzer ist diese Haltung das Einfallstor in eine neue Unmündigkeit. Wie Schafherden ließen sich Nutzer von »paternalistischen Technologien« herumschubsen, so dass man am Ende »schlafwandelnd in die Überwachung« taumele, so die These seines neuen Buchs »Klick«.

In seiner invasiven Art, das Privatleben der Menschen auszuforschen, erinnere der Überwachungskapitalismus an das Mittelalter, »etwa im Frankreich des 16. Jahrhunderts, als die Nachbarn alles über einen wissen wollten und auf jedes Knacken der Treppenstufen achteten«. Damals habe es wenig Raum für Privatsphäre gegeben, jeder beobachtete jeden rund um die Uhr. Die Einzigen, die nicht ständig öffentlicher Kontrolle unterzogen waren, waren die absoluten Herrscher, so Gigerenzer: »Diese Herrscher legten die Bedingungen für das Leben gewöhnlicher Menschen fest und boten als Gegenleistung Schutz und andere Dienste. Heute sind die Tech-Unternehmen der neue Adel, der uns die Bedingungen diktiert, und zwar in solcher Länge und einer kaum verständlichen Sprache, dass den modernen Untertanen nichts anderes bleibt, als zu klicken und zu akzeptieren.«

Das Sinnbild dieser Unterwerfung sind für Gigerenzer Cookies – kleine Codeschnipsel, die zwischen dem Computer des Nutzers und den Servern des Webseitenbetreibers ausgetauscht werden und die Aktivitäten im Netz verfolgen. Entwickelt in den 90ern, verbannten US-Regierungswebseiten Cookies im Jahr 2000. Doch dann kamen die Anschläge des 11. September – und die Massenüberwachung, die sich nicht zuletzt auf eine Kooperation von Google und den Geheimdiensten stützte.

Die teils irrationale Angst vor Terroranschlägen hat der Risikoforscher in früheren Büchern mit reichlich Zahlenmaterial zu entkräften versucht. Gigerenzer schreibt: »Die Bekämpfung des Terrorismus ist kein wohldefiniertes Problem, das sich mühelos mit Big Data bekämpfen ließe.« Doch wie sähe ein Ausweg aus den Überwachungsschleifen aus?

Unter dem Stichwort »Datenwürde« (data dignity) werden seit geraumer Zeit Modelle diskutiert, die unter anderem eine Entschädigung für Nutzer vorsehen. Doch wie hoch wäre eine solche? Der Autor beruft sich auf Experten, die den Wert der Daten auf 100 Euro taxieren. Würde Facebook die Hälfte seines Gewinns an seine Nutzer ausschütten, käme man auf 28 Cent im Monat beziehungsweise einen Cent am Tag. Die Facebook-Nutzer wären die »am schlechtesten bezahlten Arbeiter der Welt« – ein »lausiges Geschäft«, konstatiert Gigerenzer. Für den Psychologen kommt daher nur ein »radikaler Schnitt« in Frage: eine Gebühr für digitale Dienste. »Das wäre der Schlüssel, die Privatsphäre zu retten und einer Zukunft mit kommerzieller Überwachung zu entgehen, die leicht in eine staatliche Überwachung abgleiten könnte«, so der Psychologe. Sein Rat lauter daher: »Zahlen Sie für Dienstleistungen!«

Gerd Gigerenzer hat ein eindrückliches Plädoyer für mehr Privatsphäre geschrieben und dabei Lösungswege skizziert, wie man aus dem Überwachungskapitalismus ausbrechen kann. Anhand konkreter Beispiele macht er deutlich, wie Algorithmen in unseren Alltag hineinregieren. Auf einige Ausführungen etwa über die Skinner-Box oder neuronale Netze hätte man zu Gunsten einer stringenteren Argumentation verzichten können. Trotzdem versteht es der Autor, dem Leser die Ambivalenz der digitalen Technik vor Augen zu führen. »Ein Smartphone«, schreibt Gigerenzer, »ist eine tolle Technologie, aber es braucht smarte Menschen, die es vernünftig verwenden.«

Kennen Sie schon …

Spektrum - Die Woche – Manipulation im Netz

Die verlockende Shopping-Saison beginnt! Black Week und Weihnachtsangebote machen uns anfällig für »Dark Patterns« – manipulative Designmuster auf Websites und Apps. Wie diese Techniken funktionieren und wie man sich schützt, erfahren Sie in der aktuellen Ausgabe von »Spektrum – Die Woche«.

Spektrum Kompakt – Moderne Kriegsführung

Kriege waren und sind immer unsagbar belastend. Doch haben sich mit der Zeit die Waffen und Methoden weiterentwickelt: Inzwischen können Auseinandersetzungen sogar ins Weltall verlagert werden. Und mit aufmerksamem Auge lassen sich auch in den sozialen Medien Kriegsverbrechen aufklären.

Spektrum - Die Woche – Putzig, aber unerwünscht

Waschbären haben sich in Europa rasant verbreitet – die einen finden sie niedlich, andere sind nur noch genervt, weil die Tiere den Müll plündern oder in den Dachboden einziehen. Dazu kommen Risiken für Gesundheit und Natur. Wie stark schaden sie der heimischen Tierwelt und uns Menschen?

Schreiben Sie uns!

2 Beiträge anzeigen

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.