Das Wasser bis zum Hals
Der anthropogene Klimawandel ist für viele ein leidiges Thema. Einerseits zeichnen sich seine katastrophalen Folgen immer deutlicher ab, andererseits liegen sie für viele Menschen noch in gefühlt weiter Ferne. Genau hier setzt dieses Buch an: Indem es konkret, anschaulich und detailliert erläutert, wie der Klimawandel das Leben von Inselbewohnern schon heute beeinflusst, liefert es einen originellen Zugang zum Thema. Das Werk eröffnet neue Perspektiven und lädt dazu ein, sich mit den großen ökologischen Herausforderungen unserer Zeit zu befassen. Es macht deutlich, dass die Folgen des Klimawandels für viele Menschen bereits Tatsache sind und ihren Alltag prägen.
In besonderem Maße gilt dies für die rund 110.000 Bewohner des pazifischen Inselstaats Kiribati, der zwischen Australien und Hawaii liegt. Große Teile seiner Landfläche erheben sich nur wenige Meter über den Meeresspiegel, weshalb seine 33 Atolle und Inseln wohl spätestens 2070 kaum noch bewohnbar sein werden. Bereits jetzt kommt es, wenn ein El Niño-Ereignis Wind- und Meeresströmungen im äquatorialen Pazifik durcheinanderbringt, auf den Inseln zu starken Stürmen, monatelangen Regenfällen und Überschwemmungen. Straßen werden überflutet, die Kinder und Lehrer für ihren Schulweg nutzen, und der Unterricht fällt aus. Dabei wäre eine gute Bildung für die Kinder Kiribatis besonders wichtig, da nur sie es ihnen ermöglichen wird, später auf den Arbeitsmärkten anderer Länder Fuß zu fassen.
Weltweite Herausforderung
Weitere Probleme gibt es bezüglich der Lebensmittelversorgung: Auf vielen Inseln, die teils tausende Kilometer voneinander entfernt sind, benötigen die Bewohner regelmäßige Lieferungen von Reis, Zucker und Mehl. Bleiben diese wegen eingeschränkten Flug- und Schiffverkehrs aus, reduziert sich das Nahrungsangebot auf Fisch und Kokosmilch. Trotz dieser Widrigkeiten möchten die meisten Einwohner (sie nennen sich "l-Kiribati") solange an ihrem Wohnort bleiben, wie es irgend geht, denn in der Landeskultur ist eine enge Heimatverbundenheit tief verankert.
Die Autorin und promovierte Biologin Gabriele Kerber hat mehrere Monate auf den Inseln Marakei, Tarawa und Kiritimati verbracht, die zu Kiribati gehören, und mit zahlreichen Einwohnern gesprochen. Deshalb kann sie die Lebensbedingungen dort sehr anschaulich beschreiben, was ihr Buch authentisch macht. Dazu tragen auch die vielen Farbfotos in dem Band bei. Gekonnt vergleicht die Autorin die Herausforderungen, die der Klimawandel für Kiribati mit sich bringt, mit denen, die er für ihre eigene Heimat bedeutet, die deutsche Nordseeküste.
Bei diesem Vergleich zeigt Kerber überraschend viele Gemeinsamkeiten auf. Genau wie in dem pazifischen Inselstaat gehören Unwetter auch auf den ostfriesischen Inseln und den nordfriesischen Halligen zu den Folgen des Klimawandels, die das Leben am stärksten beeinträchtigen. Witterungsbedingte Versorgungsengpässe hat man hierzulande ebenfalls schon erlebt – etwa Frischwassermangel auf Hallig Hooge, nachdem 1962 infolge eines Sturms zahlreiche Wasserbehälter umgestürzt waren. Wie die l-Kiribati verfolgen auch die Bewohner der Nordseeinseln verschiedene Strategien, um mit den zahlreicher und heftiger werdenden Sturmfluten umzugehen. Während man auf Borkum das Wasser mit Schutzdünen und Befestigungsmauern abzuwehren versucht, haben sich die Bürger Hallig Hooges auf regelmäßige großflächige Überflutungen eingestellt: Die Häuser dort stehen auf erhöhten Warften. Und auch auf den deutschen Inseln findet die Vorstellung wenig Anklang, die Heimat zu verlassen und aufs Festland zu ziehen.
Eine Frage des Geldes
Um den Folgen des Klimawandels noch möglichst lange trotzen zu können, sind hier wie dort teure Anpassungsmaßnahmen nötig, die sich nur mit Unterstützung anderer umsetzen lassen. An der Stelle gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen den Ländern: Kiribati ist mehr oder weniger auf sich gestellt, während die deutsche Nordseeküste von umfangreichen Subventionen seitens Niedersachsens, der Bundesrepublik und der EU profitiert.
Kerber stellt ihren Analysen einen kurzen, aber gehaltvollen Abschnitt voran, der die wissenschaftlichen Hintergründe des Klimawandels zusammenfasst. Am Ende ihres Werks zieht sie ein kurzes Fazit. Ihre Begeisterung für das Thema Meer ist durchweg spürbar. Auch der Geschichte Kiribatis und anderen einschlägigen Themenfeldern widmet sie sich mit großer Detailliebe. Obgleich dabei vereinzelt der rote Faden verloren geht, gelingt ihr ein originelles, facettenreiches Buch. Im Allgemeinen lassen sich die Ausführungen der Autorin gut nachvollziehen; hier und da verwendet sie allerdings recht viel Fachjargon. Das Glossar ist hilfreich, auch wenn es umfangreicher sein könnte. Unterm Strich erscheint das Werk für Personen, die sich für den Klimawandel interessieren, dennoch sehr lesenswert.
Hinweis der Redaktion: Spektrum der Wissenschaft und Springer Science+Business Media gehören beide zur Verlagsgruppe Springer Nature. Dies hat jedoch keinen Einfluss auf die Rezensionen. Spektrum der Wissenschaft rezensiert Titel aus dem Springer-Verlag mit demselben Anspruch und nach denselben Kriterien wie Titel aus anderen Verlagen.
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