Im Dschungel der Begierden
Dr. Heide Kraut, die "Ärztin mit der sprechenden Hand", engagiert sich seit 2011 in der Gesundheitsbildung für Kinder. In medizinischen Mitmach-Vorlesungen begeistern sie und ihre Handpuppen "Cora" und "Coli" zahlreiche Kleinen, und ihre Bücher "Frau Doktor hat einen Vogel" (2011) und "In meinem Körper ist was los" (2016) klären über ganz alltägliche Gesundheitsphänomene auf. Nun hat Heide Kraut ein Buch über "Körperliche Bedürfnisse" vorgelegt, das als Skript ihrer gleichnamigen Veranstaltungen für Jugendliche und Erwachsene dient. Im wirklichen Leben heißt sie Dr. Sibylle Mottl-Link und hat in der Herzchirurgie und Kinderheilkunde, im Gesundheitsamt und als Notärztin gearbeitet.
Ganz im Sinne der Notfallmedizin soll das Buch helfen, auch in dramatischen Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren. Dabei geht es nicht (nur) um klassische Notlagen wie Verkehrsunfall oder Herzinfarkt. Vielmehr lässt sich der von Heide Kraut entworfene Leitfaden in allen möglichen Stresssituationen anwenden. Dazu sortiert die Autorin zunächst sämtliche körperliche Bedürfnisse nach Buchstaben und Dringlichkeit, wobei gilt: je dringlicher, desto weniger aufschiebbar. Eine Schlange, die klassischerweise den Sexualtrieb repräsentiert und ständig in den Vordergrund drängen möchte, unterbricht Krauts Erörterungen immer wieder. Gleich zu Anfang stellt Frau Doktor aber klar: Ohne Sex stirbt man nicht, ohne Atmen, Trinken und Essen dagegen schon. Am Ende jedes Kapitels gibt es zwei Mitmach-Übungen, die die Lektüre etwas auflockern.
Täglich tüchtig toben
Die Reihenfolge, in der Heide Kraut die Bedürfnisse sortiert, ist insofern bemerkenswert, als beispielsweise Hunger erst an achter Stelle erscheint, während Bewegung als zweitdringendstes Bedürfnis aufgeführt ist. Gerade in Anbetracht der aktuellen Diskussionen um Schulkinder und ADHS erscheint der Vorschlag der Autorin, jedem Kind als tägliche Hausaufgabe "eine Stunde Toben mit anderen Kindern" zu verordnen, gar nicht so abwegig. Ebenfalls noch wichtiger als Hunger und Nahrungsaufnahme sind laut Kraut das F wie Faulenzen (im Sinne von Schlaf und Regeneration) und das G wie Geborgenheit.
Besonders das Geborgenheitsgefühl habe es in sich, schreibt die Medizinerin. Zum einen werde die Sehnsucht nach Geborgenheit oft mit Nahrungszufuhr kompensiert, was Gewichts- und andere Gesundheitsprobleme nach sich ziehe. Zum anderen sei die Suche nach Geborgenheit vor allem bei Erwachsenen häufig mit sexuellen Begierden verbunden. Nicht selten würden beide miteinander verwechselt. Für Babys hat der Entzug körperlicher Berührung und Zuwendung übrigens fatale Folgen bis hin zum Tod, wie Kraut darlegt. Bei Erwachsenen könne bereits das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe Geborgenheit vermitteln.
Gekonnt raus aus dem Stress
"Ideen und Tagträume haben", sowie "zauberhafte Ziele verfolgen" komplettieren das A bis Z der körperlichen Bedürfnisse. Krauts Rezept für akute Stresssituationen besteht darin, sich die Vordringlichkeit des jeweiligen Begehrens klar zu machen und danach zu handeln. Erst mal tief durchatmen – das ist schon ein guter Anfang; ob der weitere Plan dann aufgeht, ist zumindest einen Versuch wert. In dem Buch erfahren die Leser(innen) viel über sich und ihre inneren Beweggründe, und sicherlich ist es zum größten Teil für Jugendliche ab 14 geeignet.
Allerdings erscheinen die Ausführungen zu Liebeskummer und sexueller Frustration im Hinblick aufs erklärte Zielpublikum etwas zu erwachsen. Verliebtheit in einer langjährigen Beziehung, im Alter oder nach einer Scheidung – diese Themen sprechen sicherlich keine Jugendlichen an. Es fehlen Passagen zu schwärmerischer Verliebtheit oder auch den hormongesteuerten Irritationen, mit denen viele Pubertierende zu kämpfen haben. Ob die Intermezzi mit der Schlange darauf genügend Antworten geben, erscheint fraglich. Dass Verliebte vor allem auch unter der Angst vor Peinlichkeit leiden, hat Kraut herausgearbeitet. Denoch sollte dieser Abschnitt noch besser an die besonderen Verhältnisse im pubertierenden Hirn angepasst werden.
Unterm Strich erscheint Krauts Notfall-ABC dennoch gelungen. Wie die dazu gehörende Veranstaltung bei Jugendlichen und Erwachsenen ankommt, bleibt abzuwarten. Interessenten finden auf www.heide-kraut.de mehr Informationen.
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