Land unter in der Pflege
Wenn es um die Pflege in Deutschland geht, ist oft vom Notstand die Rede. Die Zahl der Menschen mit Pflegebedarf nimmt zu, doch mangelt es an Pflegekräften. Aus dem Themenreport »Pflege 2030« der Bertelsmann Stiftung geht hervor, dass in zehn Jahren bis zu 400 000 Pflegekräfte fehlen könnten.
Im September 2017 ergriff der Krankenpflege-Azubi Alexander Jorde in der ARD-Sendung »Wahlarena« das Wort. Jorde brachte den Notstand offen zur Sprache und bot Angela Merkel damit Paroli. Seit diesem Auftritt ist der inzwischen 22-Jährige ein gefragter Gast in Talkshows. Er nutzt diesen Medienrummel, um die Probleme seines Berufsstands in der Öffentlichkeit anzusprechen.
Keine fachgerechte Pflege möglich
Jorde steht kurz vor Abschluss seiner Ausbildung. Er hat sich bewusst für den Pflegeberuf entschieden, seine Wahl bereut er nicht. Es sei, so schreibt er, Sinn stiftend, kranke Menschen zu pflegen und bei ihrer Genesung zu unterstützen. Die Arbeitsbedingungen in der Klinik ließen die fachgerechte Pflege aber nicht zu. Stattdessen herrschten mitunter schlimme Zustände: Pflegebedürftige Menschen litten unter Mangelernährung oder lägen stundenlang in ihren Ausscheidungen. Wie konnte es so weit kommen?
Pflegende in Kliniken und Heimen stehen unter enormen Zeitdruck, wie aus dem Buch hervorgeht. Dadurch leidet die Qualität der pflegerischen Versorgung, und auch die Gefahr von Fehlern erhöht sich. Statt Aufgaben in Ruhe, gewissenhaft und gründlich erledigen zu können, müssen Pflegekräfte priorisieren: Was nicht lebensnotwendig ist, muss warten.
In deutschen Kliniken kommt es häufig vor, dass Pfleger von Patient zu Patient hetzen. Andere Länder zeigen, dass das nicht so sein muss. Paradebeispiel hierfür ist Norwegen. Auf eine Pflegekraft kommen dort im Durchschnitt sechs Patienten. In Deutschland sind es mehr als doppelt so viele.
Jorde appelliert an die Politik, die Missstände in der Pflege zu verbessern. Der Blick ins Ausland könne dabei helfen. Ein möglicher Schritt wäre beispielsweise die Einführung einer Untergrenze in der Pflege. Das würde bedeuten, die Zahl der zu versorgenden Patienten pro Pflegekraft zu begrenzen. Seit Anfang des Jahres gibt es solche Beschränkungen zwar, allerdings nur auf bestimmten Stationen. Zudem sollten, so der Autor, jungen Menschen Anreize dafür geboten werden, diesen Berufsweg einzuschlagen. Die momentan relativ schlechte Bezahlung, Schichtdienst und starre Hierarchien in den Kliniken schreckten eher ab.
Auch von den Pflegekräften fordert Jorde ein Umdenken. Statt im stillen Kämmerchen über die Zustände zu schimpfen, sollten sie aktiv werden, etwa durch das Eintreten in eine Gewerkschaft. Der Autor verlangt auch Widerstand gegen eine unrealistische Personalplanung. Momentan funktioniere eine knappe Bemessung der Pflegekräfte von Seiten der Kliniken, denn genügend Kolleg(inn)en seien bereit, außerplanmäßig einzuspringen. Ohne diese Bereitschaft würde das Ausmaß der Fehlplanungen viel deutlicher; im Extremfall müssten sogar Stationen geschlossen werden. Ein entschiedeneres Pochen auf das Einhalten von Dienstplänen würde Klinikleitungen dazu zwingen, schon im Voraus mehr Pflegende pro Schicht einzuteilen.
Gerade Lesern, die den pflegerischen Alltag in Kliniken nicht kennen, gewährt das Buch einen aufschlussreichen Einblick. Der Autor hat zwar vor allem praktische und weniger theoretische Expertise, dennoch – oder genau deshalb – gelingt es ihm im Buch wie in seinen Fernsehauftritten, die Probleme der Pflege anschaulich und unprätentiös auf den Punkt zu bringen.
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